The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Nashira.
»Nein.«
Obwohl ich es sollte. Okay, ich hatte Angst. Diese Frau kontrollierte hier einfach alles. Ihr Name wurde nur flüsternd genannt, tief in den Schatten, ihr Befehl entschied über Leben und Tod. Ganz in der Nähe schwebten ihre gefallenen Engel, nie weit von ihrer Aura entfernt.
Das Schweigen zog sich in die Länge. Ich war unsicher, ob ich sie nun ansehen sollte oder nicht. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Spiegelung des Feuerscheins: eine Glasglocke. Sie stand genau in der Mitte des Tisches. Darunter lag eine vertrocknete Blume mit brüchigen, braunen Blättern, die von einer filigranen Drahtkonstruktion aufrecht gehalten wurde. Welcher Art auch immer diese Blume zu Lebzeiten angehört hatte, es war im Tod nicht mehr zu erkennen. Mir war schleierhaft, warum jemand mitten auf seinem Esstisch eine tote Blume aufstellen sollte – andererseits, das war Nashira . Sie umgab sich ja mit jeder Menge toter Dinge.
Mein Interesse fiel ihr offenbar auf.
»Manche Dinge sind tot besser dran«, sagte sie. »Findest du nicht?«
Ich konnte meinen Blick nicht von der Blume abwenden. Ganz sicher war ich nicht, aber mein sechster Sinn schien auf sie zu reagieren.
»Stimmt«, antwortete ich.
Nashira blickte vielsagend nach oben. Oberhalb der Fenster waren die langen Wände mit Gesichtern aus Stuck verziert. Ich betrachtete das nächstgelegene etwas genauer. Das entspannte Gesicht einer Frau mit einem sanften Lächeln. Sie wirkte so friedlich, als würde sie schlafen.
In meinem Magen machte sich ein ungutes Gefühl breit. Das war die Unbekannte aus der Seine , eine berühmte französische Totenmaske. Jax hatte eine Replik davon in unserem Unterschlupf hängen. Er fand die Frau wunderschön und hatte mir erzählt, dass die Künstlerszene des späten 19. Jahrhunderts geradezu besessen von ihr gewesen sei. Irgendwann hatte Eliza sie mit einem Tuch abgedeckt, was ihm gar nicht gepasst hatte. Sie fand das Ding einfach nur gruselig.
Langsam sah ich mich im Raum um. All diese Gesichter – oder diese Leute – , alles Totenmasken . Ich musste einen starken Würgereiz unterdrücken. Nashira sammelte nicht nur die Geister von Sehern, sondern auch ihre Gesichter.
Seb. Was, wenn Seb auch dort oben war? Mühsam zwang ich mich, wieder auf den Tisch zu sehen, aber in meinem Magen rumorte es weiter.
»Du scheinst dich nicht ganz wohlzufühlen«, stellte Nashira fest.
»Mir geht es gut.«
»Das höre ich gerne. Es wäre schrecklich, wenn du während dieser entscheidenden Phase deines Aufenthalts in Sheol I krank werden würdest.« Mit dem lederbekleideten Finger strich sie über das Messer für den Hauptgang, sah mich aber weiter aufmerksam an. »In wenigen Minuten werden meine Rotjacken uns Gesellschaft leisten, doch zunächst möchte ich mit dir sprechen. Es ist mir sozusagen eine Herzensangelegenheit.«
Faszinierende Vorstellung, dass sie glaubte, ein Herz zu haben.
»Der Blutsgefährte hat mich über deine Entwicklung auf dem Laufenden gehalten. Seiner Schilderung nach hat er sein Möglichstes versucht, um deine Gabe zum Vorschein zu bringen«, fuhr sie fort, »doch es ist dir nicht gelungen, eine Traumlandschaft vollständig in Besitz zu nehmen. Nicht einmal die eines Tieres. Ist das wahr?«
Sie wusste es also nicht. »Es ist wahr«, sagte ich.
»Wie schade. Andererseits hast du einem Emit gegenübergestanden und überlebt … ja, die Kreatur sogar verwundet. Deshalb ist Arcturus der Meinung, wir sollten dich zu einer Rotjacke machen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aus irgendeinem Grund hatte der Wächter ihr nichts von dem Schmetterling erzählt. Oder dem Reh. Daraus schloss ich, dass er nicht wollte, dass sie von meinen Fähigkeiten erfuhr. Aber er wollte schon, dass ich zur Rotjacke wurde. Was für ein Spiel trieb er diesmal?
»Wie still du bist«, bemerkte Nashira. Ihre Augen waren kalt wie ein Eisberg. »Bei der Einführung hast du dich weniger schüchtern gezeigt.«
»Mir wurde gesagt, ich dürfe nur sprechen, wenn man mich dazu auffordert.«
»Was nun der Fall ist.«
Am liebsten hätte ich ihr gesagt, wo sie sich ihre Aufforderungen hinschieben konnte. Dem Wächter gegenüber war ich unverschämt gewesen, eigentlich hätte ich keinen Gedanken daran verschwenden sollen, es bei ihr anders zu machen. Doch ihre Hand ruhte noch immer auf dem Messer, und ihr starrer Blick verriet ihre absolute Skrupellosigkeit. Also versuchte ich, mir einen angemessen demütigen Ton abzuringen, und sagte:
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