The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Karten. Die waren für Liss. Hastig blätterte ich sie durch und überflog die Bilder. Es war ein Thoth-Tarot – also anders illustriert als die Karten, die Liss bisher hatte – , aber auch das konnte ein Tarotist benutzen.
Ich stopfte mir die Karten in die Tasche. Außerdem nahm ich noch Brandsalbe, Petroleum und Desinfektionsmittel mit. Während der Suche stieß ich auf eine zweite Tür, die wahrscheinlich zur Glocke führte, ging aber nicht hindurch. Meine Beute war komplett. Inzwischen war der Rucksack so schwer, dass ich ihn kaum noch anheben konnte. Mühsam schob ich mir die Riemen über die Schultern und wandte mich zur Treppe – wo mir ein Reph entgegenblickte.
Sämtliche lebenserhaltenden Funktionen schienen auszusetzen. Unter einer Kapuze hervor funkelten mich leuchtend gelbe Augen an.
»Sieh mal einer an«, sagte der Reph. »Ein Verräter im Turm.«
Er kam auf mich zu. Innerhalb eines Herzschlags hatte ich den Rucksack abgestreift und war auf das nächste Regal geklettert.
»Du musst die Traumwandlerin sein. Ich bin Kraz Sargas, der Blutserbe der Rephaim.« Spöttisch verbeugte er sich. Die Ähnlichkeit zu Nashira zeigte sich deutlich in den dicken, goldglänzenden Haaren und den schweren Lidern. »Hat Arcturus dich geschickt?«
Ich antwortete nicht.
»Er lässt seinen Tribut an die Blutsherrscherin also unbeaufsichtigt herumspazieren. Das wird sie nicht gerne sehen.« Er streckte mir die behandschuhten Finger entgegen. »Komm runter, Traumwandlerin. Ich begleite dich zurück nach Magdalen.«
»Und dann wirst du so tun, als wäre das hier nie passiert?« Ich rührte mich nicht vom Fleck. »Du schleppst mich doch zu Nashira.«
Seine Geduld verflüchtigte sich. »Zwing mich nicht, dich zu zerquetschen, Gelbjacke.«
»Nashira will mich nicht tot sehen.«
»Ich bin aber nicht Nashira.«
Nun saß ich endgültig in der Falle. Wenn er mich nicht umbrachte, würde er mich direkt in die Residenz der Protektoren bringen. Mein Blick fiel auf ein Glas mit weißer Aster. Ich könnte sein Gedächtnis auslöschen.
Dieses Glück war mir nicht vergönnt. Mit einer lässigen Handbewegung brachte Kraz das gesamte Regal zum Einsturz. Flaschen und Glasröhrchen zersplitterten auf dem Boden. Um nicht erdrückt zu werden, rollte ich mich ab und schnitt mir dabei an einer Scherbe die Wange auf. Mir entfuhr ein Schrei. Stechender Schmerz schoss durch meine gebrochenen Rippen.
Ich kam nicht schnell genug wieder hoch. Meine Verletzungen behinderten mich. Hier drin gab es keine Geister, nichts, womit ich ihn hätte zurückdrängen können. Kraz zerrte mich an der Weste hoch und schleuderte mich gegen die Wand. Fast wäre ich ohnmächtig geworden. Mein Brustkorb schien auseinanderzubrechen. Mit einer Hand packte Kraz meine Haare, riss meinen Kopf zurück und atmete tief ein – fast so, als wolle er mehr in seine Lungen saugen als nur Luft. Erst als Blut aus meinen Augen quoll, wurde mir klar, was er da tat. Wild strampelnd wand ich mich und schlug um mich, versuchte verzweifelt, einen Zugang zum Æther zu finden. Er entzog sich mir bereits.
Kraz war vollkommen ausgehungert. Er würde meinen Schimmer restlos aufsaugen.
Meinen rechten Arm hielt er fest, aber der linke war frei. Gestärkt durch den Adrenalinschub tat ich das, was mein Vater mir immer eingeschärft hatte: Ich rammte Kraz einen Finger ins Auge. Sobald er meine Haare losließ, holte ich das Fläschchen aus meiner Tasche. Die rote Blume.
Mit gefletschten Zähnen schloss Kraz die Finger um meine Kehle. Wenn ich jetzt versuchte, sein Bewusstsein anzugreifen, würde mein Körper irreparable Schäden davontragen. Mir blieb keine andere Wahl. Ich schleuderte ihm das Fläschchen ins Gesicht.
Der Gestank war entsetzlich: Verwesung, süßlich-beißende Verwesung. Die Pollen waren direkt in seine Augen geflogen. Die Augäpfel wurden schwarz und lösten sich auf, und seine Gesichtshaut verfärbte sich zu einem hässlichen, fleckigen Grau. »Nein«, keuchte er. »Nein, du … nicht … «
Den Rest gab er auf Gloss von sich. Mir wurde kurz schwarz vor Augen. Reagierte ich etwa allergisch auf das Zeug? Beißende Gallenflüssigkeit stieg mir in die Kehle. Hastig wühlte ich in meinem Rucksack herum, holte die Pistole heraus und richtete sie auf seinen Kopf. Kraz sank auf die Knie.
Töte ihn.
Meine Handflächen wurden feucht. Selbst nach allem, was ich der verdeckten Wache in der U-B ahn angetan hatte, nach dem Verbrechen, durch das ich erst hierhergekommen war,
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