The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
aber … «
»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Immerhin hast du jede Menge eigene Probleme, mit denen du fertigwerden musstest. Dass Jax großes Interesse an dir haben würde, war mir klar, aber er hat dich mehrmals durch die Hölle gejagt. Er behandelt dich noch immer wie sein neuestes Lieblingsspielzeug. Ich bereue es, dich überhaupt in all das verwickelt zu haben.«
»Nein, nein, du darfst dir keine Vorwürfe machen.« Hastig drehte ich mich zu ihm um und packte seine Hand so fest, dass ich sie fast zerquetschte. »Du hast mich gerettet, Nick. Früher oder später hätte ich den Verstand verloren. Ich musste es erfahren, sonst hätte ich mich immer als Außenseiter gefühlt. Durch dich habe ich das Gefühl, dass ich dazugehöre, sogar in mehr als einer Hinsicht. Dafür werde ich dir nie genug danken können.«
Erschrocken musterte er mein Gesicht. »Du siehst aus, als müsstest du gleich weinen.«
»Bestimmt nicht.« Abrupt ließ ich seine Hand los. »Hey, ich muss jetzt gehen. Ich habe noch eine Verabredung.«
Was gelogen war.
»Warte, Paige, geh nicht.« Er packte mein Handgelenk und hielt mich fest. »Ich habe dich verletzt, stimmt’s? Was ist los?«
»Ich bin nicht verletzt.«
»Doch, bist du. Bitte, nur einen Moment.«
»Ich muss wirklich los, Nick.«
»Du bist noch nie abgehauen, wenn ich dich gebraucht habe.«
»Es tut mir leid.« Ich zog meinen Blazer enger um mich. »Wenn du meinen Rat willst: Geh zurück ins Hauptquartier und sag Zeke, was du für ihn empfindest. Und wenn sein zerrüttetes Bewusstsein auch nur annähernd funktioniert, wird er dich nicht wegschicken.« Mit einem traurigen Lächeln blickte ich zu ihm hoch. »Ich würde es jedenfalls nicht tun.«
Da sah ich es: erst Verwirrung, dann Ungläubigkeit, dann Bestürzung.
Er hatte es begriffen.
»Paige«, setzte er an.
»Es ist spät geworden.« Mit zitternden Händen schwang ich mich über das Geländer. »Wir sehen uns dann am Montag, okay?«
»Nein, Paige, warte. Warte! «
»Nick, bitte.«
Er verstummte, seine Augen waren aber noch immer weit aufgerissen. Ich kletterte an der Hauswand hinunter und ließ ihn allein im Mondschein zurück. Erst als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, kam die erste und einzige Träne. Ich schloss meine Augen und atmete in tiefen Zügen die Nachtluft ein.
Wie ich nach I-5 gekommen bin, weiß ich nicht mehr genau. Vielleicht mit der U-B ahn. Vielleicht zu Fuß. Mein Vater war noch bei der Arbeit. Er erwartete mich auch nicht. Reglos stand ich in der leeren Wohnung und starrte durch das Dachfenster. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit sehnte ich mich nach einer Mutter oder einer Schwester oder auch nur einer Freundin – einer, die nicht den Siegeln angehörte. Nun stand ich hier und hatte nichts dergleichen. Und keine Ahnung, was ich tun sollte, was ich fühlen sollte. Was würde ein amaurotisches Mädchen an meiner Stelle tun? Sich wahrscheinlich eine Woche im Bett verkriechen. Aber ich war nicht amaurotisch, und ich hatte ja nicht einmal mit jemandem Schluss gemacht oder so. Ich hatte mich nur von einem Traum verabschiedet. Von einem kindischen Traum.
Unwillkürlich musste ich an meine Schulzeit denken, als ich der einzige Seher unter lauter Amaurotikern gewesen war. Im unserem letzten Jahr war auf einmal zwischen Suzette, einer meiner wenigen Freundinnen, und ihrem Freund Schluss gewesen. Ich versuchte, mich genauer daran zu erinnern. Sie hatte sich nicht eine Woche im Bett verkrochen, das wusste ich noch. Was hatte sie getan? Moment … ja, es fiel mir wieder ein. Sie hatte mir eine SMS geschickt und mich gefragt, ob wir gemeinsam um die Häuser ziehen sollten. Will mir den Frust von der Seele tanzen , hatte sie geschrieben. Wie immer hatte ich eine Ausrede gefunden, um nicht mitzugehen.
Heute Nacht würde ich feiern. Ich würde die Sorgen wegtanzen. Würde vergessen, dass es überhaupt passiert war. Würde mich vom Schmerz befreien.
Ich zog mich aus, ging unter die Dusche, trocknete mich ab und brachte meine Haare in Form. Anschließend folgten Lippenstift, Mascara und Lidstrich. Auf die Handgelenke tupfte ich etwas Parfum. Kniff mich in die Wangen, damit sie Farbe bekamen. Als ich fertig war, schlüpfte ich in ein Kleid aus schwarzer Spitze, streifte Peeptoe-Pumps über und verließ die Wohnung.
Der Wachmann warf mir einen seltsamen Blick zu, als ich an ihm vorbeistöckelte.
Ich nahm ein Taxi. Im East End gab es einen Club, in den Nadine öfter ging, in dem
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