The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Tag gerade war, noch, welche Uhrzeit. Das Grammophon spielte leise »It’s a Sin to Tell a Lie « .
Es gab so viele Erinnerungen, die ich ihm hätte zeigen können. Ich hatte die Aufstände in Irland miterlebt, die Trauer meines Vaters, jahrelange Quälerei durch die Scion-Schulmädchen … doch ich hatte ihm jene Nacht gezeigt, in der ich von dem Mann, den ich liebte, einen Korb bekommen hatte. Es schien banal und unerheblich zu sein, aber es war meine eine, normale menschliche Erinnerung. Das eine Mal, als ich mich einem Fremden ausgeliefert hatte. Das einzige Mal, dass mir das Herz gebrochen wurde.
Das Herz hatte für mich keine Bedeutung. Ich glaubte an Traumlandschaften und Geister. Sie allein zählten. Sie brachten das Geld. Doch an diesem Tag hatte mein Herz wehgetan. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich gezwungen gewesen anzuerkennen, dass ich ein Herz hatte und wie zerbrechlich es war. Es konnte verletzt werden. Es konnte mich demütigen.
Nun war ich älter. Vermutlich hatte ich mich verändert, war reifer geworden und stärker. Ich war nicht das Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenenleben, das verzweifelt nach Anschluss suchte, nach einer Schulter zum Anlehnen. Sie gab es schon lange nicht mehr. Jetzt war ich eine Waffe, eine Marionette in den Händen anderer. Und ich war mir nicht sicher, was schlimmer war.
Träge umspielte eine Flamme die Glut im Kamin. Ihr Licht fiel auf eine Gestalt am Fenster.
»Willkommen zurück.«
Da ich nicht antwortete, blickte der Wächter über die Schulter.
»Weiter«, forderte ich ihn auf. »Du musst doch noch mehr zu sagen haben.«
»Nein, Paige.«
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Du glaubst, ich war dumm. Und du hast recht.« Ich starrte auf meine Hände. »Ich … ich wollte nur … «
»Wahrgenommen werden.« Sein Blick verlor sich in den Flammen. »Ich denke, ich verstehe jetzt, warum diese Erinnerung dich so sehr beeinträchtigt. In ihr verbirgt sich deine größte Angst: Dass an dir nichts weiter dran sein könnte als deine Gabe. Nichts außer der Traumwandlerin. Diesen Teil von dir empfindest du als wahrhaft wertvoll, er bildet deine Lebensgrundlage. Die anderen Aspekte deines Selbst hast du in Irland verloren. Nun stützt du dich auf Jaxon Hall, der dich wie eine Ware behandelt. Für ihn bist du nicht mehr als ein wenig Fleisch, veredelt durch einen Geist. Eine unbezahlbare Gabe in menschlicher Verpackung. Doch Nick Nygård hat dir gezeigt, dass es noch mehr gibt.«
Aufmerksam sah ich ihn an.
»Diese Nacht hat dir die Augen geöffnet. Als dir klar wurde, dass Nick einen anderen liebt, wurdest du mit deiner größten Angst konfrontiert: dass man dich niemals als Menschen wahrnehmen würde, als Summe all deiner Teile. Sondern immer nur als Kuriosum. Dir blieb nichts anderes übrig, als dir selbst das Gegenteil zu beweisen und einen Menschen zu finden, der dich wollte, jemanden, der nichts von der Traumwandlerin wusste. Mehr war dir nicht geblieben.«
»Wage es ja nicht, mich zu bemitleiden«, sagte ich.
»Ich bemitleide dich nicht. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nur aufgrund dessen begehrt wird, was man darstellt.«
»Das wird nicht wieder vorkommen.«
»Aber die Einsamkeit konnte dich auch nicht schützen, richtig?«
Frustriert wich ich seinem Blick aus. Der Gedanke, dass er das wusste, war unerträglich. Und dass ich mich von ihm so hatte entschlüsseln lassen, war fast noch schlimmer. Der Wächter setzte sich neben mich aufs Bett.
»Das Bewusstsein eines Amaurotikers ist wie Wasser: fade, grau, durchsichtig. Ausreichend, um das Leben zu erhalten, aber mehr nicht. Bei einem Seher ist es wie Öl: in jeder Hinsicht reichhaltiger. Und wie Öl und Wasser können sich die beiden nie wirklich verbinden.«
»Du willst also sagen, dass es, weil er Amaurotiker war … «
»Genau.«
Wenigstens war mit meinem Körper alles in Ordnung. Ich hatte nie den Mut aufgebracht, wegen der Ereignisse dieser Nacht zum Arzt zu gehen. In solchen Belangen waren Scion-Ärzte kalt und unerbittlich.
Plötzlich fiel mir etwas ein. »Wenn das Bewusstsein eines Sehers wie Öl ist«, sagte ich vorsichtig, »wie ist dann euer Bewusstsein?«
Zunächst dachte ich, er würde gar nicht antworten. Irgendwann sagte er mit samtig weicher Stimme ein einziges Wort.
»Feuer.«
Die zwei kleinen Silben jagten mir einen Schauer über den Rücken. Mir drängte sich der Gedanke auf, wie Öl und Feuer aufeinander reagierten: explosiv.
Nein. So durfte ich nicht
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