The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
darin, mich um die menschlichen Einwohner unserer Stadt zu kümmern. Einen besonderen Gruß möchte ich jenen unter Ihnen entrichten, die aus den noch nicht konvertierten Regionen des Kontinents kommen. Haben Sie keine Angst! Nach der Show sollen Sie Gelegenheit erhalten, aus Ihren Städten Scion-Zitadellen zu machen, wie es schon so viele Regierungen getan haben. Unser Programm ermöglicht es der Politik, Seher aufzuspüren und abzusondern, solange sie noch jung sind, und das ohne kostenaufwendige Massenhinrichtungen.«
Ich versuchte nicht hinzuhören. Nicht alle Länder setzten NiteKind ein, um Seher zu exekutieren. Viele zogen tödliche Spritzen, Erschießungskommandos oder Schlimmeres vor.
»In Zusammenarbeit mit den Scion-Zitadellen Paris und Marseilles haben wir bereits Pläne zur Errichtung von Sheol II erstellt, was unsere erste französische Satellitenstadt sein wird.« Applaus. Mynatt lächelte. »Doch wir hoffen, heute Abend noch mindestens zwei weitere potenzielle Standorte für solche Kontrollkolonien auf dem Kontinent ermitteln zu können. Aber vorher haben wir ein kleines Schauspiel für Sie vorbereitet, um zu beweisen, dass unsere Seher ihre Fähigkeiten einsetzen, um Gutes zu schaffen. Das Stück wird uns in die finsteren Zeiten vor der Ankunft der Rephaim zurückführen, als der blutrünstige König noch an der Macht war. Jener König, der seine Herrschaft auf Blut gründete.«
Die Uhr schlug. Ich beobachtete, wie zwanzig Akrobaten in einer langen Reihe auf die Bühne kamen. Sie würden die Lebensgeschichte von Edward VII . nachspielen, vom Erwerb eines Séancetisches über die fünf Morde in seinem Palast bis zu dem Moment, als er mit seiner Familie aus England floh. Dies war der Beginn der sogenannten Epidemie und der Beweis für die Notwendigkeit von Scion. Liss war ebenfalls auf der Bühne, allerdings eher im Hintergrund. Neben ihr standen Nell – das Mädchen, das für sie eingesprungen war, als sie an der Bewusstseinsstarre litt – und eine Prophetin, die, glaube ich, Lotte hieß. Alle drei waren als Opfer des blutrünstigen Königs verkleidet.
In der Mitte der Bühne warf der Oberaufseher gerade seinen Mantel ab, unter dem die Staatsgewänder eines Monarchen zum Vorschein kamen. Die Menge jubelte. Er spielte den jungen Edward, Thronfolger unter Königin Victoria, schwer behangen mit Pelzen und Juwelen.
Die erste Szene schien in einem Schlafgemach zu spielen, in dem die Muse Kalliope grell »Daisy Bell« pfiff. Der Schauspieler ganz vorne am Bühnenrand stellte sich als Frederick Ponsonby vor, der erste Baron von Sysonby und Edwards Privatsekretär. Aus seiner Perspektive würde das Stück erzählt werden. »Eure Hoheit«, wandte er sich an den Oberaufseher, »sollen wir ein wenig nach draußen gehen?«
»Besitzen Sie ein Jackett, Ponsonby?«
»Nur einen Frack, Hoheit.«
»Ich dachte, es müsse jedermann bekannt sein, dass zu einer morgendlichen Privataudienz ausschließlich Jackett und Zylinder zu tragen sind«, brüllte der Oberaufseher mit einem einigermaßen aristokratischen Akzent. »Und ich habe in meinem ganzen Leben wohl noch nie eine so hässliche Hose gesehen!«
Höhnisches Gelächter und missbilligendes Zischen. Und dieser zügellose Barbar hatte es gewagt, sich als Victorias Erbe zu bezeichnen! Ponsonby wandte sich an das Publikum: »Erst nach langen, sich steigernden Qualen – etwa wegen meines Fracks und meiner bedauernswerten Hose«, vereinzeltes Gelächter, »begann die Putzsucht des Prinzen zu ermüden. An jenem Nachmittag bat er mich, ihn auf einen Ausflug zu begleiten. Oh, meine Freunde! Nie hat ein Mensch größeren Kummer gelitten als die Königin, die mit ansehen musste, wie ihr Sohn den Pfad des Bösen einschlug.« Ich spähte kurz über die Schulter, weil ich wissen wollte, wie der Wächter auf das Stück reagierte, aber er war nirgendwo zu sehen.
Der Schlagabtausch zwischen Edward und Ponsonby zog sich noch eine Weile hin. In jeder Szene wurde Edward als grausamer, lüsterner Idiot dargestellt, als große Enttäuschung für seine Muttet. Ich verfolgte das Ganze mit einer gewissen Faszination. Seine Rolle in Bezug auf den Tod von Prinz Albert wurde bis ins Lächerliche übertrieben, man hatte sogar ein Duell eingefügt. Einmal trat die verwitwete Königin Victoria auf, tief verschleiert und mit einer kleinen diamantenen Krone ausgestattet. »Niemals könnte oder werde ich ihn ansehen, ohne dass es mich schaudert«, beichtete sie dem Publikum. »Er ist für
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