The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
er mich wegführen konnte, fuhr Nashiras Kopf herum. Sie packte mich am Arm und zog mich zu sich heran.
»Hast du dich verletzt, 40?«
Die Wundverschlussstreifen waren schon lange von meiner Wange verschwunden, doch eine hauchdünne Narbe war von der Schnittwunde der Scherbe geblieben. »Ich habe sie geschlagen.« Der Wächter hielt mich noch immer fest. »Sie war ungehorsam. Also habe ich sie bestraft.«
Wie eine Puppe hing ich zwischen ihnen, jeden der beiden an einem Arm. Über meinen Kopf hinweg starrten sie sich an. »Gut«, sagte Nashira schließlich. »Nach all den Jahren lernst du doch noch, was es bedeutet, mein Gefährte zu sein.«
Damit wandte sie ihm den Rücken zu und ging durch die Menge. Die Abgesandten machten ihr eilig Platz.
Der Pianist, wer auch immer er sein mochte, schlug ein paar wohlgesetzte Akkorde an, die von geisterhaftem Gesang begleitet wurden. Irgendwie kam mir diese Stimme bekannt vor, ich konnte sie aber nicht zuordnen. Der Wächter führte mich an den Rand des Saals. Als wir im Schatten der Galerie standen, beugte er sich zu mir. »Ist alles bereit?«
Ich nickte.
Diese Sängerin hatte wirklich eine wundervolle Stimme, eine Art hauchiges Falsett. Das Gefühl, sie zu kennen, verstärkte sich. »Meine Verbündeten und ich haben letzte Nacht eine Séance abgehalten«, fuhr der Wächter so leise fort, dass ich ihn kaum verstand. »Ihr werdet Geister zur Verfügung haben. Menschliche Geister, die Opfer der XVIII . Knochenernte. Sie werden sich mit euch gegen die Rephaim verbünden.«
»Was ist mit der NVD ? Sind sie hier?«
»Ihnen ist der Zutritt zur Gildehalle verboten, solange man sie nicht ruft. Sie wurden an der Brücke stationiert.«
»Wie viele sind es?«
»Dreißig.«
Wieder nickte ich. Jeder der Gesandten wurde von mindestens einem Bodyguard begleitet, aber die kamen von der SVD . Diese Leute wollten nicht von Widernatürlichen beschützt werden. Was uns nun zugute kam, denn die Wachen von der SVD konnten nicht mithilfe von Geistern kämpfen.
Der Blick des Wächters wanderte zur Decke, wo Liss gerade an ihren Seidenbahnen emporkletterte. »Liss scheint sich erholt zu haben.«
»Ja.«
»Dann sind wir jetzt quitt. Alles wurde abgegolten.«
»Sämtliche Schulden sind beglichen«, bestätigte ich. Worte aus der Threnodie. Das erinnerte mich daran, was mir noch bevorstand. Und wenn es Nashira gelang, mich umzubringen?
»Es wird alles nach Plan verlaufen, Paige. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.« Er sah zur Bühne hinauf. »Hoffnung ist das Einzige, was uns alle jetzt noch retten kann.« Ich folgte seinem Blick. Auf einem mit einem Tuch bedeckten Sockel stand die Glasglocke mit der toten Blume. »Hoffnung auf was?«, fragte ich.
»Veränderung.«
Die Musik verstummte und am Rande der Tanzfläche wurde applaudiert. Ich wollte unbedingt herausfinden, wer da gesungen hatte, konnte hinter den ganzen Abgesandten aber nichts erkennen.
Eine Rotjacke betrat die Bühne – 22. Sein schlurfender Gang verriet, wie viel von Ducketts Mischung er intus hatte. »Ladys und Gentlemen«, trompetete er, »die … die große Protektorin, Nashira Sargas, vom Blut bestimmte Herrscherin der … des Volkes der Rephaim.«
Taumelnd trat er den Rückzug an. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Zumindest mit dieser Rotjacke mussten wir uns nicht mehr herumschlagen.
Unter anhaltendem Applaus betrat Nashira das Podium. Ihr Blick richtete sich direkt auf uns. Der Wächter erwiderte ihn ausdruckslos.
»Ladys und Gentlemen«, begann sie, ohne ihn je aus den Augen zu lassen, »willkommen in der Scion-Hauptstadt Sheol I . Ich möchte Ihnen allen herzlich danken, dass Sie zu unserer heutigen Feier erschienen sind.
Unsere Ankunft hier in Großbritannien liegt nun zweihundert Jahre zurück. Seit 1859 haben wir einen langen, langen Weg zurückgelegt. Wie Sie sehen können, haben wir unser Möglichstes getan, um die erste unter unserer Führung stehende Stadt zu einem Ort der Schönheit, des Respekts und vor allem des Mitgefühls zu machen. Unser Rehabilitationsprogramm erlaubt es jungen Sehern, in unsere Stadt zu kommen, wo sie die für sie bestmögliche Lebensqualität erwartet.« Ungefähr wie Tiere im Zirkus. »Wie wir wissen, ist die Sehergabe nicht ihren Opfern anzulasten. Wie eine Krankheit befällt sie die Unschuldigen und plagt sie mit Widernatürlichkeit.
Sheol I feiert heute zweihundert Jahre erfolgreicher Arbeit. Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass dieses Unternehmen sich als
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