The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Buhlauten. Ganz schön dreist von Bell, mich als Verräter zu bezeichnen.
Hoch erhobenen Hauptes ging ich weiter und zwang mich, meine gesamte Konzentration auf Nashira zu richten. Die Abgesandten würdigte ich keines Blickes. Und ich sah auch nicht zur Galerie hinauf, wo sie den Wächter hingebracht hatten. Ein paar Meter vor Nashira blieb ich stehen. Die begann, mich langsam zu umkreisen. Solange sie nicht in meinem Blickfeld war, starrte ich stur geradeaus.
»Einige von Ihnen fragen sich sicher, wie wir hier Gerechtigkeit walten lassen, ob durch die Schlinge oder vielleicht durch Feuer wie in den alten Zeiten. Dies ist das Schwert des Inquisitors, das aus der Zitadelle hierher gebracht wurde.« Sie zeigte auf die Waffe. »Doch bevor ich hierzu greife, möchte ich Ihnen noch etwas anderes demonstrieren: die große Gabe der Rephaim.«
Leises Gemurmel.
»Edward VII . war ein neugieriger Mann. Wir alle wissen nur zu gut, dass er mit Kräften gespielt hat, die niemals angerührt werden sollten. Er versuchte eine Macht zu beherrschen, die sich dem menschlichen Verständnis entzieht. Eine Macht, die wir Rephaim sehr gut kennen.«
Birgitta Tjäder starrte mit gerunzelter Stirn auf die Bühne. Einige Abgesandte sahen sich nach ihren SVD -Bodyguards um, unter anderem Bell.
»Stellen Sie sich die kraftvollste Energie auf Erden vor.« Nashira deutete mit ausgestrecktem Arm auf eine nahe Laterne. »Elektrizität. Sie bildet das Fundament Ihrer Lebensweise. Sie beleuchtet Ihre Städte und Häuser. Sie ermöglicht Ihnen ganz eigene Formen der Kommunikation. Der Æther, die Quelle – also die Lebenskraft der Rephaim , ähnelt der Elektrizität. Er kann Licht bringen statt Dunkelheit, Wissen statt Ignoranz.« Plötzlich strahlte die Laterne in hellem Glanz. »Doch wird er falsch genutzt, kann er auch zerstören. Er kann töten.« Das Licht erlosch.
»Ich verfüge über eine Gabe, die sich während der letzten zwei Jahrhunderte als äußerst nützlich erwiesen hat. Einige menschliche Seher zeigen ganz besonders unberechenbare Fähigkeiten. Sie kanalisieren den Æther – also das Reich der Toten – auf eine Art und Weise, die in Wahnsinn und Gewalt enden kann. Der blutrünstige König hatte eine solche Fähigkeit, was zu seinen tragischen Mordgelüsten führte. Ich bin dazu in der Lage, diese gefährlichen Missgestaltungen der Gabe zu entfernen.« Damit zeigte sie auf mich. »Die Sehergabe an sich kann, wie jede Energie, nicht zerstört werden, lediglich umgewandelt. Wenn 40 stirbt, wird früher oder später ein anderer Seher ihre Fähigkeiten entwickeln. Doch indem ich diese in mir einschließe, stelle ich sicher, dass sie nie wieder angewendet werden können.«
»Du erfindest wohl gerne Geschichten, was, Nashira?«
Noch bevor ich den Gedanken zu Ende geführt hatte, war er mir auch schon entwischt. Sie fuhr zu mir herum. Ihr Blick war mörderisch.
»Du wirst schweigen.«
So eine sanfte Stimme.
Ich riskierte einen Blick auf die Galerie – leer. Vor der Bühne stand Michael und schob eine Hand in sein Jackett. Er trug eine unserer Waffen bei sich.
Am anderen Ende der Gildehalle wurde eine Tür geöffnet. Terebell, Alsafi und der Wächter traten ein. Über die Köpfe der Abgesandten hinweg suchte ich seinen Blick. Das goldene Band zwischen uns vibrierte. Dann stand mir das Bild eines kleinen Messers vor Augen, hier auf dem Boden – die Waffe, die der Oberaufseher zurückgelassen hatte. Es lag nur wenige Schritte von Nashiras Füßen entfernt. Während sie sich wieder der Menge zuwandte, überbrückte mein Geist mit rasender Geschwindigkeit den Abstand zwischen uns. Ich sammelte jeden Funken Kraft, der in mir war, und stieß in die tiefsten Bereiche ihres Bewusstseins vor. Der Angriff kam für sie völlig überraschend. Schnell erdachte ich mir eine gigantische Traumgestalt, ein wahres Ungetüm, das groß genug war, um jede Barriere zu sprengen.
Der Æther bebte. Geister glitten durch den Saal und stürzten sich aus allen Richtungen auf Nashira. Am Rand ihrer Traumlandschaft schlossen sie sich mir an und zertrümmerten ihren uralten Schutzpanzer. Die fünf Engel versuchten zwar, sie zu verteidigen, aber erst hatten sich zwanzig, dann fünfzig, jetzt zweihundert Geister auf sie geworfen, und die Mauern begannen zu bröckeln. Ich verlor keine Zeit, sondern bahnte mir einen Weg durch die Schatten und katapultierte mich in das Herzstück ihrer Traumlandschaft hinein.
Nun blickte ich durch ihre Augen. Der Saal war ein
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