The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
ihn nicht einfach nur töten, immerhin war er so tief gesunken, dass er einen Menschen mit bloßen Händen berührt hatte. Das war mehr als reiner Verrat. Indem er mich geküsst und in seinen Armen gehalten hatte, hatte der Blutsgefährte seine gesamte Familie mit in den Sumpf gezogen. Nun war er nicht länger ein würdiger Kandidat. Er war gar nichts mehr.
Alsafi hatte mich fest am Arm gepackt. Ich würde sterben. In weniger als zehn Minuten würde ich in den Æther eintreten, wie all die anderen Geister. Mein silbernes Band würde reißen. Nie mehr würde ich in meinen Körper zurückkehren können, den ich nun seit neunzehn Jahren bewohnte. Von nun an würde ich Nashira dienen müssen.
Der Sack wurde heruntergerissen. Ich stand seitlich an der Bühne, wo gerade das Ende des Schauspiels seinen Lauf nahm. Rechts und links von mir standen zwei Rephs: Alsafi und Terebell. Letztere beugte sich zu mir runter und fragte leise: »Wo ist Arcturus?«
»Thuban und Situla haben ihn auf die Galerie gebracht.«
»Um die werden wir uns kümmern.« Alsafi ließ meinen Arm los. »Du musst so lange die Blutsherrscherin in Schach halten, Traumwandlerin.« Dass Terebell eine Verbündete des Wächters war, hatte ich gewusst, aber Alsafi? Wie ein Sympathisant für die menschliche Sache wirkte er nicht gerade, aber der Wächter hatte das ja auch nicht getan.
Der Oberaufseher floh von der Bühne, über und über mit künstlichem Blut beschmiert, und ließ dabei sein Messer zurück. Sein Flehen um Gnade hallte durch den gesamten Saal. Die Abgesandten jubelten, als einige Schauspieler in Scion-Uniformen ihn bis auf die Straße hinausjagten. Ohrenbetäubender Applaus brandete auf. Er brach auch nicht ab, als Nashira die Stufen zur Bühne erklomm.
»Vielen Dank, Ladys und Gentlemen, das ist sehr freundlich. Es freut mich sehr, dass Ihnen unsere kleine Inszenierung gefallen hat«, sagte sie. Dabei sah sie alles andere als zufrieden aus. »Außerdem ist es mir eine Freude, Ihnen – sozusagen als Abschluss des Abends – durch eine kurze Demonstration das Rechtssystem veranschaulichen zu können, das wir hier in Sheol I etabliert haben. Eine unserer Seherinnen hat sich als dermaßen ungehorsam erwiesen, dass wir sie nicht länger leben lassen können. Wie der blutrünstige König muss auch sie endgültig von der amaurotischen Bevölkerung ferngehalten werden, damit sie keinen weiteren Schaden mehr anrichten kann.
XX -59–40 wurde die Arglist sozusagen in die Wiege gelegt. Sie stammt aus der Region Tipperary, tief im Süden von Irland. Einer Gegend, die man von jeher mit Aufruhr in Verbindung bringt.« Cathal Bell rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Einige der Abgesandten raunten sich etwas zu. »Nach ihrem Umzug nach England wurde sie sofort in die kriminellen Machenschaften des Syndikats von London verstrickt. Am Abend des siebten März’ ermordete sie dann zwei ihrer Seherkollegen, beide verdeckte Wachen im Dienste von Scion. Es war eine kaltblütige, grausame Tat. Keinem der Opfer von 40 war ein schneller Tod vergönnt. Noch in derselben Nacht wurde sie nach Sheol I gebracht.« Nashira wanderte nun auf der Bühne hin und her. »Wir hatten gehofft, sie erziehen zu können, ihr beibringen zu können, wie sie ihre Gabe unter Kontrolle halten sollte. Für uns ist es immer schmerzhaft, einen jungen Seher zu verlieren. Und es schmerzt mich auch, zuzugeben, dass unsere Bemühungen in Bezug auf eine Umerziehung von 40 gescheitert sind. Sie hat uns unser Mitgefühl mit Trotz und Gewalt gedankt. Nun bleibt ihr keine andere Wahl, als sich dem Urteil des Inquisitors zu stellen.«
Mein Blick wanderte über die Bühne: kein Galgen, keine Bahre, kein Richtblock. Aber ein Schwert.
Mir gefror das Blut in den Adern. Das war kein normales Schwert, es hatte eine goldene Klinge und einen schwarzen Griff. Man nannte es den Zorn des Inquisitors, und damit wurden Vaterlandsverräter enthauptet. Es wurde nur benutzt, wenn Seher im Archonitat von Westminster als Spione enttarnt wurden. Ich war die Tochter eines prominenten Wissenschaftlers von Scion und damit eine Verräterin in den Reihen der Amaurotiker.
Alsafi und Terebell verschwanden unter der Bühne. Damit stand ich Nashira allein gegenüber. Sie drehte sich zu mir um.
»Tritt vor, 40.«
Ich zögerte nicht einmal.
Als ich hinter dem Vorhang hervorkam, senkte sich angespanntes Schweigen über die Menge. Bis Cathal Bell sich zu Wort meldete. »Verräterin«, rief er, gefolgt von diversen
Weitere Kostenlose Bücher