The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Antwort.
»Dann habe ich also in den Stein gesehen«, sagte er gerade zu einer Weißjacke. Mehrere Clowns beobachteten ihn. »Und ich habe beschlossen, nach ihren Sehnsüchten Ausschau zu halten. Wie sich herausstellte, ist sie ganz scharf darauf, diesen Weißen Fesselmeister zu finden, und sobald ich sein Gesicht sah, wusste ich natürlich genau, wo er sich aufhielt. Anscheinend ist er der Denkerfürst von I-4.«
Eisige Kälte packte mich. Er sprach von Jaxon.
»Paige?«, sagte Julian.
»Alles okay, warte kurz.«
Bevor mir bewusst wurde, was ich da tat, marschierte ich schnurstracks auf Carl zu. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich ihn an der Tunika packte und in eine Ecke zerrte.
»Was hast du gesehen?«, zischte ich. Carl starrte mich an, als wäre ich verrückt geworden. »Wie bitte?«
»Was hast du ihr über den Weißen Fesselmeister verraten, Carl?«
»Das heißt XX -59–1.«
»Mir egal. Sag mir, was du gesehen hast.«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« Abfällig musterte er meine weiße Tunika. »Anscheinend machst du doch nicht so schnelle Fortschritte, wie alle gedacht haben. Hast du deinen ach so besonderen Hüter etwa enttäuscht?«
Ich schob mich so dicht an ihn heran, dass unsere Nasen nur Zentimeter voneinander entfernt waren. Aus dieser Perspektive hatte er noch mehr Ähnlichkeit mit einer Ratte.
»Das ist kein Spiel, Carl«, fluchte ich leise. »Und ich habe etwas gegen Verräter. Sag mir, was du gesehen hast.«
Die Laternen um uns herum flackerten. Es schien niemandem aufzufallen – die Akrobaten hatten sich inzwischen anderen Dingen zugewandt – , außer Carl. Ein Hauch von Angst schlich sich in seinen Blick. »Ich konnte nicht genau erkennen, wo er war«, gab er schließlich zu, »aber ich habe eine Sonnenuhr gesehen.«
»Bei deiner Vorhersage?«
»Ja.«
»Was will sie vom Fesselmeister?« Meine Finger krallten sich noch fester in seine Tunika.
»Keine Ahnung. Ich habe nur getan, was sie befohlen hat.« Er riss sich von mir los. »Warum willst du das alles wissen?«
Das Blut rauschte in meinen Ohren. »Hat keinen Grund.« Ich ließ die Hand sinken. »Tut mir leid. Ich bin einfach nervös wegen der Prüfungen.«
Das schien Carl zu schmeicheln, denn er erwiderte freundlich: »Absolut verständlich. Aber du bekommst bestimmt bald deine nächste Farbe.«
»Und danach?«
»Nach Rosa? Dann treten wir natürlich dem Batallion bei! Ich kann es gar nicht erwarten, diese dreckigen Summer in die Finger zu kriegen. Dauert nicht lange, dann bin ich rot.«
Sie hatten ihn schon eingewickelt. Er war jetzt schon ein Soldat, ein Killer in Ausbildung. Ich rang mir ein Lächeln ab und ließ ihn stehen.
Carl hatte allen Grund, stolz zu sein. Er war ein guter Prophet. Mithilfe von Nashira hatte er jemanden so konkret erfasst, dass er ihn auf der glänzenden Oberfläche seines bevorzugten Numas hatte sehen können. Das war die Gabe der Wahrsager und auch einiger Auguren. Sie konnten ihre Fähigkeiten mit den Wünschen und Sehnsüchten eines anderen – des Fragenden – verbinden, um seine Zukunft zu deuten. Kartenleger und Handleser machten das ständig. Und ganz egal, was Jaxon sagte, oft war das sehr praktisch. Der Æther war wie das Scionet: ein Netzwerk aus Traumlandschaften, deren gespeicherte Informationen auf Knopfdruck zugänglich wurden. Der Fragende stellte dabei eine Art Suchmaschine dar, einen Weg, um durch die Augen der ruhelosen Geister zu sehen.
Mit Nashira hatte Carl die perfekte Fragende gefunden. So hatte er nicht nur Jax gesehen, sondern auch einen Hinweis darauf, wo er sich aufhielt. Eine der sechs Sonnenuhren an der Säule.
Ich musste ihn warnen, so schnell wie möglich. Zwar wusste ich nicht, was sie von Jax wollte, aber ich würde sicher nicht zulassen, dass sie ihn hierher brachte.
Julian folgte mir nach draußen. »Paige?« Er hielt mich am Ärmel fest. »Was hat er gesagt?«
»Nichts.«
»Du siehst blass aus.«
»Es geht mir gut.« Erst jetzt bemerkte ich das Brot in seiner Hand, und sofort musste ich an Seb denken. »Isst du das noch?«
»Nein, willst du es haben?«
»Nicht für mich, für Seb.«
»Wo hast du den denn gefunden?«
»Im Haus der Amaurotiker.«
»Stimmt. Dann werden in London also Seher eingesperrt, und hier Amaurotiker?«
»Für die ist das vielleicht irgendwie logisch.« Ich steckte den Brotkanten ein. »Wir sehen uns morgen. Bei Sonnenuntergang?«
»Bei Sonnenuntergang.« Er zögerte kurz. »Wenn ich
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