The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
in der Vergangenheit hin und wieder Fehler unterlaufen sind. Ein vielversprechender Fall entpuppt sich vielleicht als kaum spannender als ein dahergelaufener Kartenleger. Doch ohne jeden Zweifel wirst du wesentlich unterhaltsamer sein, das verrät deine Aura bereits.« Sie winkte mich zu sich. »Komm und zeig uns deine Talente.«
Der Wächter und Alsafi traten beiseite. Nun standen Nashira und ich uns direkt gegenüber.
Meine Muskeln verkrampften sich. Sie wollten doch nicht etwa, dass ich gegen sie kämpfte , oder? Da konnte ich nur verlieren. Sie und ihre Engel würden meine Traumlandschaft zerfetzen. Ich spürte bereits, wie sie Nashira umkreisten und nur darauf warteten, ihren Wirt zu verteidigen.
Doch dann fiel mir wieder ein, was Liss gesagt hatte: dass Nashira einen Traumwandler haben wollte. Hastig dachte ich nach. Vielleicht konnte ich etwas tun, wogegen sie keinen Schutz hatte. War ich ihr gegenüber irgendwie im Vorteil?
Die Szene in der U-B ahn fiel mir wieder ein. Ohne einen Traumwandler oder ein Orakel konnte Nashira den Æther nicht beeinflussen. Und solange sie nicht irgendwie den Geist eines Unlesbaren absorbiert hatte, könnte ich immer noch meinen Geist in ihrem Bewusstsein freisetzen.
Ich könnte sie töten.
Plan A löste sich in Luft auf, als Alsafi zurückkam. Er trug eine schmale Gestalt auf den Armen, deren Kopf mit einem schwarzen Sack bedeckt war. Der Gefangene wurde auf einen Stuhl gesetzt und mit Handschellen festgeschnallt. Meine Finger wurden taub. War das einer von den anderen? Hatten sie Seven Dials lokalisiert und meine Gang gefunden?
Aber ich spürte keine Aura, also war es ein Amaurotiker. Sofort fiel mir mein Vater ein, und mir wurde schlecht. Doch dazu war die Gestalt zu klein und zu dünn.
»Ich glaube, ihr kennt euch bereits«, stellte Nashira fest.
Sie rissen den Sack von seinem Kopf, und mir gefror das Blut in den Adern.
Seb. Sie hatten ihn erwischt. Seine Augen waren so zugeschwollen, dass sie aussahen wie kleine Pflaumen, und die Haare hingen ihm in blutverkrusteten Strähnen ins Gesicht. Abgesehen von den rissigen, aufgesprungenen Lippen war sein gesamtes Gesicht mit getrocknetem Blut bedeckt. Ich hatte schon öfter gesehen, was schlimme Prügel anrichten konnten, wenn Hectors Opfer nach Seven Dials gekrochen kamen, um Nick um Hilfe zu bitten, aber so etwas noch nie. Und noch nie hatte ich ein Opfer gesehen, das so jung gewesen war.
Die Wache schlug ihn auf die Wange und verpasste ihm so den nächsten Bluterguss. Seb war kaum noch ansprechbar, trotzdem schaffte er es, den Blick zu heben.
»Paige.«
Beim Klang seiner gebrochenen Stimme kochte heiße Wut in mir hoch. Ich fuhr zu Nashira herum. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
»Gar nichts«, erwiderte sie. »Das wirst du tun.«
»Wie bitte?«
»Es wird Zeit, dass du dir die nächste Tunika verdienst, XX -40.«
»Wovon zum Teufel redest du da?«
Alsafi versetzte mir einen so heftigen Schlag gegen den Kopf, dass ich fast umgefallen wäre. Dann packte er mich an den Haaren und zerrte mich zu sich herum. »In Gegenwart der Herrscherin wirst du keine Obszönitäten von dir geben. Halt deine Zunge im Zaum, sonst nähe ich dir den Mund zu.«
»Nur Geduld, Alsafi. Lass ihr ihre Wut.« Nashira hob beschwichtigend eine Hand. »Schließlich war sie in der Bahn auch wütend.«
In meinen Ohren summte es laut, und aus meiner Erinnerung stiegen zwei Gesichter auf. Zwei Körper auf dem Boden des Waggons – einer tot, einer wahnsinnig. Meine Opfer. Meine Morde.
So würde meine Prüfung also aussehen. Um mir die nächste Farbe zu verdienen, musste ich einen Amaurotiker töten.
Ich musste Seb töten.
Nashira musste geahnt haben, was ich war. Sie hatte begriffen, dass mein Geist seinen angestammten Platz in meinem Körper verlassen konnte. Dass ich dazu fähig war, schnell und ohne Blutvergießen zu morden. Und sie wollte sehen, wie es geschah. Ich sollte für sie tanzen. Sie wollte wissen, ob diese Gabe es wert war, gestohlen zu werden.
»Nein«, sagte ich.
Nashira blieb vollkommen ruhig.
»Nein?« Als ich nicht antwortete, fuhr sie fort: »Eine Weigerung ist keine Option. Du wirst gehorchen, andernfalls werden wir gezwungen sein, uns deiner zu entledigen. Der Großinquisitor wird dir deine Unverfrorenheit sicher mit Vergnügen austreiben.«
»Dann tötet mich doch«, hielt ich dagegen. »Wozu noch länger warten?«
Die hinter Nashira aufgereihten Richter blieben stumm. Auch Nashira antwortete nicht. Sie sahen mich
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