The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
du’s nicht gehört? Der hat sich umdrehen lassen. Er hat Ivy – du weißt schon, die Handleserin mit den blauen Haaren – dabei erwischt, wie sie sich von einem der Totaugen Essen erbettelt hat. Hat sie bei ihrem Hüter angeschwärzt. Du hättest sehen sollen, was die mit ihr gemacht haben.«
»Erzähl weiter.«
»Geschlagen. Ihr den Kopf rasiert. Ich will nicht darüber reden.« Ihre Hand begann leicht zu zittern. »Wenn es das ist, was nötig ist, um hier zu überleben, schickt mich lieber gleich in den Æther. Ich werde keinen Widerstand leisten.«
Tilda verstummte und warf die Überreste ihres Asternjoints fort. Nach einer Weile fragte ich: »Weißt du, in welcher Residenz Julian wohnt? Nummer 26.«
»Der mit der Glatze? In Trinity, glaub ich. Schau einfach durch das hintere Tor, von dort aus kannst du den Rasen sehen, auf dem die Neuen trainieren. Aber lass dich bloß nicht von denen erwischen.«
Als ich ging, zündete sie sich bereits den nächsten Joint an.
Asterngewächse waren die reinsten Killer und wahrscheinlich die Pflanzen, die auf der Straße am häufigsten zweckentfremdet wurden. In den Slums südlich der Themse war die Sucht weit verbreitet. Es gab weiße, blaue, rosafarbene und violette Blüten, jede von ihnen wirkte sich anders auf die Traumlandschaft aus. Eliza war jahrelang von weißen Astern abhängig gewesen, sie hatte mir alles darüber erzählt. Im Gegensatz zu den blauen, die Erinnerungen wiederherstellten, riefen die weißen Astern einen Effekt hervor, den wir Hirnleerung nannten, einen teilweisen Gedächtnisverlust. Eine Zeit lang hatte sie nicht mehr gewusst, wie ihr eigener Nachname lautete. Später stieg sie auf die violetten um, angeblich förderten sie ihre Kreativität. Sie hatte mir den heiligen Eid abgenommen, niemals irgendwelche Drogen anzurühren, und ich sah nicht ein, warum ich dieses Versprechen brechen sollte.
Die Erkenntnis, dass ich eine zusätzliche Pille bekam, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Obwohl, vielleicht war ja Tilda die Ausnahme, wenn sie nur zwei bekam. Ich würde noch jemand anders danach fragen müssen.
Die Residenz Trinity wurde auf der Seite zur Straße hin bewacht. Also wanderte ich am Rand der Barackenstadt entlang und versuchte anhand meiner ungefähren Ortskenntnis herauszufinden, wo die Rückseite der Residenz sein könnte. Schließlich landete ich vor dem Holzzaun, der das riesige Grundstück umschloss. Tilda hatte nicht gelogen: Auf dem Rasen stand eine Gruppe Weißjacken, angeführt von einem weiblichen Reph. Julian war einer von ihnen. Im Schein der grün leuchtenden Gaslaternen schoben sie mithilfe von breiten Schlagstöcken Geister durch die Luft. Erst dachte ich, sie benutzten Numa, also Objekte, die vom Æther durchflossen wurden. Aus ihnen zogen auch Wahrsager ihre Kraft, aber ich hatte noch nie erlebt, dass jemand mithilfe eines Objekts Geister kontrollierte .
Ich schaltete auf meinen sechsten Sinn um. Die Traumlandschaften der Menschen waren im Æther alle zu einer Art Cluster verschmolzen, dessen Dreh- und Angelpunkt die Reph bildete. Sie wurden von ihrem Bewusstsein angezogen wie Motten vom Licht.
Genau in diesem Moment entschied sie sich, auf Julian loszugehen. Mit ihrem Stock schleuderte sie einen wütenden Geist auf ihn. Er fiel flach auf den Rücken und blieb benommen liegen.
»Hoch mit dir, 26.«
Julian rührte sich nicht.
»Steh auf.«
Er schaffte es nicht. Natürlich nicht, immerhin war ihm gerade ein wütender Geist ins Gesicht gesprungen. Nach so etwas stand kein Seher einfach wieder auf.
Seine Hüterin verpasste ihm einen festen Tritt gegen die Schläfe. Sofort wichen die anderen Weißjacken zurück, als könnte es sie als Nächste treffen. Sie warf der Gruppe einen kalten Blick zu, dann marschierte sie so entschlossen zum Haus zurück, dass ihr schwarzes Kleid sich hinter ihr bauschte. Die Menschen tauschten hastige Blicke, bevor sie ihr eilig folgten. Kein einziger blieb zurück, um Julian zu helfen. Er lag zusammengerollt wie ein Baby im Gras. Ich versuchte, das Tor aufzuschieben, aber es war mit einer schweren Kette gesichert.
»Julian«, rief ich.
Er zuckte kurz, dann hob er den Kopf. Als er mich entdeckte, stemmte er sich auf die Füße und kam zum Tor. Sein Gesicht war schweißnass. Hinter ihm erloschen die Laternen.
»Sie hat mich richtig gern«, sagte er mit einem müden Lächeln. »Ich bin ihr Lieblingsschüler.«
»Was für ein Geist war es?«
»Nur irgendein altes Gespenst.«
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