The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
rauskomme.«
*
Im Haus der Amaurotiker war alles dunkel, als ich dort ankam. Sogar die Außenbeleuchtung war ausgeschaltet. Ich hatte dazugelernt und versuchte gar nicht erst, an Graffias vorbeizukommen. Stattdessen kletterte ich direkt an der Regenrinne hoch.
»Seb?«
Kein Licht im Zimmer. Ich roch die feuchte, kalte Luft im Inneren. Seb antwortete nicht.
Mit beiden Händen packte ich die Gitterstäbe und kauerte mich auf das Fensterbrett. »Seb«, zischte ich noch einmal. »Bist du da?«
Anscheinend nicht. In diesem Zimmer war keine Traumlandschaft spürbar. Selbst Amaurotiker hatten eigene Traumlandschaften, auch wenn ihre farblos waren – ohne emotionale Zwischentöne, ohne geistige Aktivität. Seb war verschwunden.
Vielleicht hatten sie ihn in eine Residenz geschafft, um dort zu arbeiten. Vielleicht kam er ja bald zurück.
Oder das war eine Falle.
Ich holte das Brot aus meinem Ärmel, steckte es zwischen die Gitter und kletterte die Regenrinne hinunter. Erst als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fühlte ich mich sicher.
Was nicht lange anhielt. Als ich mich abwandte, um in die Stadt zurückzulaufen, packte jemand meinen Arm. Es fühlte sich an, als wäre ich in einen Schraubstock geraten. Zwei unmenschliche Augen, brennend und hart, durchbohrten mich mit ihren Blicken.
Kapitel Sieben
D ER K ÖDER
Vollkommen reglos stand er vor mir. Er trug ein schwarzes Hemd mit hohem Kragen, gesäumt von goldenen Nähten. Die Ärmel verdeckten den Arm, den ich am Morgen verbunden hatte.
Während er ausdruckslos auf mich hinabblickte, befeuchtete ich mir die Lippen und suchte fieberhaft nach einer Ausrede.
»So, so«, sagte er schließlich und zog mich zu sich heran. »Du verbindest also Wunden und fütterst die amaurotischen Sklaven. Wie kurios.«
Angewidert wollte ich mich losreißen, was er widerstandslos geschehen ließ. Solange er mich nicht in eine Ecke drängte, konnte ich gegen ihn kämpfen – aber dann sah ich die anderen: vier Rephs, zwei männlich, zwei weiblich. Sie hatten alle diese eisern abgeriegelten Traumlandschaften. Als ich trotzdem Kampfhaltung annahm, lachten sie.
»Mach dich nicht lächerlich, 40.«
»Wir wollen lediglich mit dir reden.«
»Dann redet«, erwiderte ich.
Meine Stimme klang irgendwie fremd.
Der Wächter hatte mir unverwandt ins Gesicht gesehen. Im Licht der Gaslampen schienen seine Augen ständig eine andere Farbe anzunehmen. Er hatte nicht gelacht.
Ich war ein Tier auf der Flucht, von Jägern umzingelt. Jeder Versuch, hier rauszukommen, wäre nicht nur dumm, sondern reiner Selbstmord.
»Ich werde mitkommen«, sagte ich deshalb.
Der Wächter nickte.
»Terebell, geh zur Blutsherrscherin und sag ihr, dass wir XX -59–40 in Gewahrsam genommen haben.«
In Gewahrsam ? Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Frau. Das musste Tildas und Carls Hüterin sein, Terebell Sheratan. Ihre gelben Augen musterten mich ruhig. Sie hatte schwarze, glänzende Haare, die sich wie eine Haube um ihren Kopf schmiegten. »Jawohl, Blutsgefährte.«
Damit ging sie los, als Vorhut des Gefangenenzuges. Ich starrte auf meine Stiefel. »Komm«, mahnte der Wächter, »die Blutsherrscherin wartet.«
Wir gingen in Richtung Stadtmitte. Die Wachen fielen ein paar Schritte zurück, um einen respektvollen Abstand zum Wächter einzuhalten. Seine Augen hatten tatsächlich eine andere Farbe: orange. Er erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte.
»Falls du eine Frage hast, darfst du sie stellen.«
»Wo gehen wir hin?«
»Zu deiner ersten Prüfung. Sonst noch etwas?«
»Was hat dich gebissen?«
Er blickte starr geradeaus. »Ich widerrufe deine Erlaubnis zu sprechen.«
Fast hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Arsch. Und ich hatte Stunden damit zugebracht, seine Wunden zu säubern. Ich hätte ihn töten können. Ich hätte ihn töten sollen .
Der Wächter kannte sich gut in der Stadt aus. Er führte uns durch mehrere Straßen, bis wir die Rückseite einer weiteren Residenz erreichten, jene Residenz, in der wir unsere Einführung bekommen hatten. Auf einer Plakette an der Mauer stand: RESIDENZ DER PROTEKTOREN . Die Wachen verneigten sich tief und drückten die Fäuste an die Brust, als der Wächter an ihnen vorbeiging. Er schien keinen von ihnen auch nur wahrzunehmen.
Mit einem Scheppern, bei dem sich alles in mir verkrampfte, fiel das Tor hinter uns ins Schloss. Hastig ließ ich den Blick über die Mauern huschen, über jeden Spalt und jede Nische, um zu sehen, wo ich mit Händen
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