The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
schleuderte. Seb schrie meinen Namen, als er über seinen Kopf hinwegflog.
Eigentlich hatte ich auf die offene Tür zugehalten, doch dieser Plan wurde durchkreuzt. Eine Wache schlug von außen das Portal zu, sodass ich mit meinem Publikum in der Kapelle eingeschlossen wurde. Da ich nicht mehr anhalten konnte, rannte ich mit vollem Schwung gegen die Tür. Die Wucht des Aufpralls drückte mir die Luft aus der Lunge, und ich verlor das Gleichgewicht. Mein Kopf schlug auf die Marmorplatten. Eine Sekunde später knallte der Kerzenständer gegen das Holz. Mir blieb kaum genug Zeit, mich wegzudrehen, bevor er dort auf dem Boden aufschlug, wo gerade noch meine Beine gewesen waren. Der Knall hallte durch die Kapelle wie ein Glockenschlag.
In meinem Hinterkopf breitete sich ein dumpfer Schmerz aus, aber ich konnte mich jetzt nicht ausruhen. Aludra hatte mich eingeholt. Ihre lederbedeckten Finger schlossen sich um meinen Hals, und ihre Daumen drückten auf meine Kehle. Ich begann zu würgen. Meine Augen füllten sich mit Blut, und ich konnte für einen Moment nichts mehr sehen. Sie bediente sich meiner Aura – meiner Aura. Glühendes Rot leuchtete in ihren Augen auf.
»Aludra, es reicht.«
Sie schien nicht zuzuhören. Ein metallischer Geschmack erfüllte meinen Mund.
Das Messer lag direkt neben mir, meine Finger krochen darauf zu, aber Aludra packte mein Handgelenk. »Jetzt bin ich dran.«
Eine Chance hatte ich noch, wenn ich leben wollte. Als sie das Messer an meine Wange drückte, schob ich meinen Geist in den Æther hinaus.
Körperlos sah ich alles mit anderen Augen, ich existierte auf einer anderen Ebene. Hier verfügte ich über die Zweitsicht. Der Æther zeigte sich wie ein lautloses, großes Nichts, in dem helle Kugeln wie Sterne leuchteten, jede Kugel eine Traumlandschaft. Aludra war mir auf der körperlichen Ebene nah, also war auch ihre Traumlandschaft nicht weit von mir entfernt. Der Versuch, mit Gewalt in ihr Bewusstsein einzudringen, käme einem Selbstmord gleich, dazu war es zu kalt, zu stark. Aber ihre Gier nach Schimmer hatte ihre Abwehrmechanismen geschwächt. Jetzt oder nie. Ich raste in ihr Bewusstsein hinein.
Sie war nicht darauf vorbereitet, und ich war verdammt schnell. Noch bevor sie realisierte, was gerade passiert war, hatte ich ihre Aphotische Zone erreicht. Als sie das bemerkte, wurde ich mit der Wucht einer abgeschossenen Kugel wieder hinauskatapultiert. Im nächsten Augenblick war ich schon wieder in meinem Körper und starrte zur Kapellendecke hinauf. Aludra kniete neben mir und umklammerte ihren Kopf.
»Holt sie raus, holt sie raus«, kreischte sie. »Sie wandert!« Keuchend rappelte ich mich auf, taumelte aber sofort gegen den Wächter, der mich an den Schultern packte. Seine Finger bohrten sich in meine Haut. Er wollte mir nicht wehtun – sondern mich nur festhalten, aufhalten – , aber mein Geist war wie eine Venusfliegenfalle, er reagierte auf Gefahren. Fast gegen meinen Willen versuchte ich es noch einmal mit demselben Angriff.
Diesmal schaffte ich es nicht einmal bis in den Æther. Ich konnte mich nicht rühren.
Der Wächter, es lag an ihm. Jetzt war er derjenige, der mir die Energie entzog und sich an meiner Aura festsaugte. Entsetzt musste ich mit ansehen, wie ich von ihm angezogen wurde, fast wie eine Blume, die sich der Sonne zuwendet.
Plötzlich hörte er auf. Es war, als würde ein Draht zwischen uns gekappt werden. Seine Augen waren blutrot.
Fassungslos starrte ich ihn an. Er trat zurück und drehte sich zu Nashira um.
Drückende Stille hatte sich ausgebreitet. Dann erhoben sich die verhüllten Rephaim und applaudierten. Benommen ließ ich mich auf den Boden sinken.
Nashira ging neben mir in die Hocke und legte mir eine Hand auf den Kopf. »Wundervoll, meine kleine Traumwandlerin.«
Ich schmeckte Blut. Sie wusste es.
Die Rephait stand wieder auf und ging zu Seb hinüber, der uns voller Angst zugesehen hatte, soweit seine Verletzungen solche Gefühle noch zuließen. Nun richtete sich das eine Auge, das noch ein wenig geöffnet war, auf Nashira. Sie stellte sich hinter seinen Stuhl.
»Vielen Dank für deine Dienste. Wir wissen das zu schätzen.« Damit umfing sie mit beiden Händen seinen Kopf. »Leb wohl.«
»Nein, bitte, nicht … bitte ! Ich will nicht sterben. Paige!«
Ruckartig drehte sie seinen Schädel zur Seite. Er riss die Augen auf und stieß ein gurgelndes Geräusch aus.
Sie hatte ihn getötet, einfach so.
»Nein!« Der Schrei stieg aus meiner Kehle
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