The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
reichte mir ein Glas mit einer dampfenden Flüssigkeit.
»Trink das. Du wirst alle Kraft brauchen, wenn du Nashira aus dem Weg gehen willst.« Dann lehnte sie sich zurück. »Jetzt weiß sie also, was du bist.«
Ich nippte an dem Glas. Das Zeug schmeckte nach Minze.
Meine Augen brannten, meine Kehle zog sich zusammen, aber ich konnte einfach nicht um Seb weinen. Es wäre mir respektlos vorgekommen, mit Liss direkt neben mir. Ihr Gesicht war geschwollen, an ihrem Hals waren dunkle Fingermale zu sehen, und ihre Schulter war ausgekugelt. Und trotzdem stellte sie mein Wohlergehen über ihr eigenes. »Du gehörst jetzt zur Familie, Schwester«, hatte sie gesagt, als sie einhändig einen warmen Wickel auf meine Brandwunde legte. Das Brennen auf der Haut ließ langsam nach, aber sie war sich sicher, dass eine Narbe zurückbleiben würde. Und genau darum ging es ja. Ich sollte jeden einzelnen Tag daran erinnert werden, wessen Eigentum ich nun war.
Neben uns lag Julian unter einem ausgebleichten Laken. Seine Hüterin war ausgegangen, um sich mit ihrer Familie zu treffen, den Chertan. Ich hatte ihm ein paar Aspirin gegeben, bevor er eingeschlafen war. Seine Nase sah schon etwas besser aus. Nachdem ich bei Sonnenuntergang nicht gekommen war, hatte er sich auf die Suche nach mir gemacht, und Liss hatte ihn bei sich aufgenommen. Die beiden hatten die Hütte so gut es ging ausgebessert, aber es war immer noch eisig hier drin. Trotzdem hatte Liss mich eingeladen, den Rest der Nacht zu bleiben, und genau das hatte ich auch vor. Alles, nur nicht zurück nach Magdalen.
Liss stemmte mit einem alten Dosenöffner den Trockenspiritus auf.
»Vielen Dank dafür. Wärme aus der Dose hatte ich schon lange nicht mehr.« Sie riss ein Streichholz an und entzündete die Alkoholpaste. Eine klare blaue Flamme erschien. »Und das hast du von Duckett?«
»Für einen gewissen Preis.«
»Was hast du ihm dafür gegeben?«
»Eine meiner Tabletten.«
Skeptisch zog Liss eine Augenbraue hoch. »Warum sollte er die haben wollen?«
»Weil ich eine Pille bekomme, die sonst keiner kriegt. Keine Ahnung, was da drin ist.«
»Wenn man sie benutzen kann, um Duckett zu bestechen, solltest du sie auf jeden Fall aufheben. Seine Aufträge sind immer verdammt riskant. Er schickt die Leute in die Residenzen, damit sie dort für ihn stehlen. Und meistens werden sie dabei erwischt.«
Sie zuckte kurz zusammen und tastete dabei nach ihrer Schulter. Sofort nahm ich ihr die Dose ab und stellte sie zwischen uns auf. »Das war Gomeisa«, riet ich.
»Nach einiger Zeit fangen die Karten an, ihn zu langweilen. Ihm gefällt nicht immer, was sie ihm zeigen.« Sie legte sich hin und zog sich ein Kissen unter den Kopf. »Aber egal, ich sehe ihn sowieso nur selten. Wenn du mich fragst, ist er die meiste Zeit gar nicht in der Stadt.«
»Warst du sein einziger Mensch?«
»Ja, deshalb hasst er mich so. Ich war genau in derselben Situation wie du: auserwählt von einem Reph, der noch nie zuvor einen Menschen erwählt hatte. Er dachte, ich hätte das Potenzial, um einer der besten Knochensammler von Sheol I zu werden.«
»Knochensammler?«
»So nennen wir die Rotjacken. Er hat geglaubt, ich würde es bis zu der Farbe schaffen. Ich habe ihn enttäuscht.«
»Wie?«
»Er trug mir auf, einem der Clowns die Karten zu legen. Sie hielten ihn für einen Verräter und glaubten, er wolle fliehen. Ich wusste, dass es so war. Die Karten hätten ihn belastet, also habe ich mich geweigert.«
»Ich wollte es auch nicht tun. Aber trotzdem hat sie gesehen, was ich bin.« Erschöpft rieb ich mir die Schläfen. »Und jetzt ist Seb tot.«
»Amaurotiker sterben hier am laufenden Band. Ganz egal, was du getan hättest, er wäre so oder so draufgegangen.« Abrupt setzte sie sich auf. »Komm, lass uns essen.«
Sie öffnete die Tür des Holzschränkchens. Erstaunt starrte ich hinein: ein Paket löslicher Kaffee, mehrere Konserven mit Bohnen und vier Eier. »Wo hast du das denn her?«
»Gefunden.«
»Wo?«
»Einer der Amaurotiker hat sie nahe seiner Residenz versteckt, Reste von den Feierlichkeiten zur Knochenernte.« Liss kramte einen Topf hervor und goss aus einer Flasche Wasser hinein. »So, wir werden tafeln wie die Könige.« Nachdem sie den Topf auf den Ofen gestellt hatte, fragte sie: »Wie geht’s dir, Jules?«
Offenbar hatten wir ihn mit unserem Gespräch geweckt. Er schlug das Laken zurück und setzte sich auf. »Besser.« Prüfend drückte er an seiner Nase herum. »Vielen Dank
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