The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
auf. Ich erinnerte mich an die Trainingseinheiten mit Nick und änderte die Richtung. Wieder sprintete ich in die Dunkelheit hinein, nur weg von dem Wachturm. Auch an einem Zaun wie diesem musste es eine Schwachstelle geben, einen Punkt, an dem ich mich zwischen den Drähten hindurchschieben konnte. Dann musste ich nur noch mit Thuban fertigwerden. Aber ich hatte ja noch meinen Geist. Ich konnte es schaffen. Ganz sicher.
Für jemanden mit ausgezeichnetem Sehvermögen war ich manchmal verdammt kurzsichtig. Innerhalb von einer Minute hatte ich mich komplett verirrt. Jenseits der beleuchteten Betonfläche taumelte ich ziellos über das riesige Areal. Und irgendwo dort draußen machte der Wächter Jagd auf mich. Ich rannte auf die nächste Laterne zu. Mein sechster Sinn rührte sich, als ich mich dem Zaun näherte. Knapp sechs Schritt vor der Barriere wurde mir übel und meine Arme und Beine wurden schwer.
Aber ich musste es versuchen, also griff ich nach dem eisigen Draht.
Es lässt sich kaum beschreiben, was mit meinem Körper passierte. Mir wurde schwarz vor Augen, dann war alles weiß, dann rot. Ich bekam Gänsehaut. Hunderte von Erinnerungen zogen an mir vorbei, auch die an den Schrei im Mohnblumenfeld, dazu völlig neue – die Erinnerungen des Geistes. Er war ermordet worden. Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte mich, woraufhin sich mir der Magen umdrehte. Kraftlos sank ich zu Boden und übergab mich.
Ungefähr eine Minute lang blieb ich so liegen, immer wieder bedrängt durch das Bild von Blut auf einem cremefarbenen Teppich. Dieser Mensch war erschossen worden, sein Schädel war aufgeplatzt, sodass Hirnmasse und Knochensplitter sich überall verteilt hatten. In meinen Ohren piepte es laut. Als ich wieder voll zu Bewusstsein kam, fiel es mir schwer, mich koordiniert zu bewegen. Ich kroch über den Boden und blinzelte hektisch, um die blutrünstigen Visionen zu vertreiben. Auf meiner Handfläche glühte eine silbrig-weiße Brandnarbe. Das Zeichen eines Poltergeistes.
Plötzlich zischte etwas an meinem Ohr vorbei. Als ich hochsah, entdeckte ich einen weiteren Wachturm, der ebenfalls bemannt war.
Fluxpfeil.
Ein zweites Geschoss kam auf mich zu. So schnell es ging, sprang ich auf die Füße, wandte mich nach Osten und rannte los … Aber es dauerte nicht lange, bis der nächste Turm auftauchte und die nächste Waffe mich nach Süden zwang. Erst als ich die ovale Betonfläche sah, begriff ich, dass sie mich zum Wächter zurückgetrieben hatten.
Der nächste Pfeil erwischte mich an der Schulter. Sofort überfielen mich lähmende Schmerzen. Mühsam griff ich nach hinten und zog das Geschoss aus der Haut. Blut floss, und ich wurde von einer solchen Übelkeit gepackt, dass ich kaum noch wusste, wo oben und unten war. Zwar hatte ich schnell genug reagiert, um die Droge aufzuhalten – es dauerte ungefähr fünf Sekunden, bis sie injiziert wurde – , doch die Botschaft war eindeutig: Gib auf oder du wirst erschossen. Der Wächter erwartete mich bereits.
»Willkommen zurück.«
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Das soll wohl heißen, ich darf nicht weglaufen.«
»Nein. Es sei denn, du möchtest, dass ich dir eine gelbe Tunika überreiche, die bei uns nur die Feiglinge bekommen.«
Blind vor Wut stürzte ich mich auf ihn und rammte ihm die Schulter in den Bauch. Groß wie er war, passierte überhaupt nichts. Er packte mich nur am Kragen und schleuderte mich fort. Ich landete genau auf der Schulter, mit der ich angegriffen hatte.
»Mit bloßen Händen kannst du mich nicht bekämpfen.« Er wanderte am Rand der Betonfläche auf und ab. »Und vor einem Emim kannst du auch nicht weglaufen. Du bist eine Traumwandlerin , Mädchen. Dir wohnt die Macht inne, Leben und Tod nach deinem Befehl zu gestalten. Verwüste meine Traumlandschaft. Treibe mich in den Wahnsinn!«
Explosionsartig löste sich ein Teil meines Selbst, und mein Geist überwand in Sekundenbruchteilen die Distanz zwischen uns. Er durchschnitt die äußeren Schichten seines Bewusstseins wie ein Messer straff gespannte Seide zerteilt. Mit voller Wucht stürmte ich durch die dunkelsten Teile seines Traumlandschaft, stemmte mich gegen seine unfassbar mächtigen Schutzbarrieren, immer den kleinen hellen Fleck vor Augen, der seine Zone des Sonnenlichts markierte.
Doch es war nicht so einfach wie damals in der U-B ahn. Das Zentrum seiner Traumlandschaft war weit weg, und mein Geist wurde bereits zurückgedrängt. Wie an einem überdehnten
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