The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
nicht getroffen wurde, aber der Anblick einer auf mich zurasenden Klinge war genug, um meinen Geist freizusetzen. Bei jedem Versuch brach mein Körper in sich zusammen, und wenn auch nur ein Fuß die Betonfläche verließ, schoss ein Fluxpfeil in meine Richtung. Bald ahnte ich das Geräusch voraus und ging in Deckung, bevor die Nadel mich treffen konnte.
Mir gelangen fünf oder sechs Sprünge aus meinem Körper. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand den Schädel aufreißen. Irgendwann konnte ich nicht mehr, ich sah schon alles doppelt, und über dem linken Auge kündigte ein leises Pochen eine heftige Migräne an. Vollkommen atemlos beugte ich mich vor und rang um Luft. Nur keine Schwäche zeigen. Nur keine Schwäche zeigen. Meine Knie drohten unter mir nachzugeben.
Der Wächter hockte sich vor mich und schlang mir einen Arm um die Taille. Ich versuchte, ihn wegzustoßen, aber meine Gliedmaßen waren weich wie Pudding.
»Hör auf«, sagte er. »Wehr dich nicht dagegen.«
Damit hob er mich hoch. Diese schnellen Sprünge hatte ich noch nie versucht, und ich wusste nicht, ob mein Gehirn das auf die Dauer mitmachen würde. Hinter meinen Augen pochte es immer stärker. Selbst das Licht der Laterne blendete mich.
»Das hast du gut gemacht.« Der Wächter sah auf mich hinab. »Aber du könntest noch viel besser sein.«
Mir fehlte die Kraft für eine Antwort.
»Paige?«
»Alles gut«, nuschelte ich.
Das schien ihm zu genügen. Mich noch immer in seinen Armen tragend, ging er Richtung Tor.
Wenig später setzte der Wächter mich wieder ab, und wir liefen schweigend zum Eingang zurück. Thuban war nicht mehr auf seinem Posten, nur Ivy lehnte am Zaun und hatte das Gesicht in den Händen vergraben, ihre Schultern zuckten krampfhaft. Als wir uns dem Tor näherten, stand sie auf und schob den Riegel zurück. Der Wächter warf ihr einen flüchtigen Blick zu, als wir an ihr vorbeigingen. »Danke, Ivy.«
Mit Tränen in den Augen sah sie hoch. Wann sie wohl das letzte Mal mit ihrem richtigen Namen angesprochen worden war?
Auch während wir durch die Geisterstadt gingen, blieb der Wächter stumm. Ich war nur halb bei Bewusstsein. Nick hätte mich jetzt für Stunden ins Bett gesteckt und mir eine ziemliche Standpauke gehalten.
Erst als wir am Haus der Amaurotiker vorbeikamen, redete der Wächter wieder mit mir. »Versuchst du oft, in den Æther vorzudringen?«
»Geht dich nichts an«, erwiderte ich knapp.
»In deinen Augen sehe ich den Tod. Tod und Eis.« Er drehte sich zu mir um. »Was seltsam ist, da sie gleichzeitig vor Wut brennen.«
Gereizt erwiderte ich seinen Blick. »Deine Augen verändern sich ja auch.«
»Und was glaubst du, warum das so ist?«
»Keine Ahnung. Ich weiß schließlich nichts über dich.«
»Das ist wahr.« Der Wächter musterte mich prüfend. »Zeig mir deine Hand.«
Nach kurzem Zögern streckte ich ihm die rechte Hand entgegen. Das Brandmal hatte angefangen, hässlich zu glänzen. Er zog eine winzige Phiole aus einer Tasche seines Umhangs, gab einen Tropfen ihres Inhalts auf seine behandschuhte Fingerspitze und verteilte ihn auf der Wunde. Ich konnte dabei zusehen, wie sie sich langsam auflöste und spurlos verschwand. Ruckartig zog ich die Hand zurück.
»Wie hast du das gemacht?«
»Man nennt es Amarant.« Er steckte die Phiole zurück und sah mich an. »Sag mir, Paige … fürchtest du dich vor dem Æther?«
»Nein.« Meine Handfläche kribbelte leicht.
»Warum nicht?«
Es war eine Lüge, denn ich fürchtete mich tatsächlich vor dem Æther. Wenn ich meinen sechsten Sinn zu weit ausstreckte, riskierte ich den Tod oder zumindest ernsthafte Hirnschäden. Jax hatte mir von Anfang an gesagt, dass ich durch meine Arbeit für ihn meine Lebenszeit wahrscheinlich um ungefähr dreißig Jahre verkürzen würde, vielleicht auch mehr. Das war reine Glückssache.
»Weil der Æther perfekt ist«, antwortete ich. »Es gibt keinen Krieg, keinen Tod, weil dort alles bereits tot ist. Und keinen Lärm, nur Stille. Sicherheit.«
»Nichts im Æther ist sicher. Und selbst der Æther ist nicht völlig frei von Krieg und Tod.«
Er blickte zum dunklen Himmel hinauf, sodass ich ungestört sein Profil mustern konnte. Sein Atem bildete trotz der Kälte keine Dampfwolken. Doch für einen Moment – nur für den Bruchteil einer Sekunde – hatten seine Züge etwas Menschliches an sich. Eine gewisse Nachdenklichkeit, fast Verbitterung. Dann richtete sich sein Blick wieder auf mich, und der
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