The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
sofort. Ihm hatte es ja auch nicht leidgetan, als er mitangesehen hatte, wie sie mich gebrandmarkt hatten, oder als Seb gestorben war. Ihm tat nie irgendetwas leid.
»Sprich«, forderte er mich auf.
Verwirrt sah ich ihn an. »Was?«
»Ich habe Schmerzen. Ein wenig Ablenkung wäre hilfreich.«
»Als ob dich irgendetwas interessieren würde, was ich zu sagen habe.« Der Satz war draußen, bevor ich es verhindern konnte.
»Allerdings.« Wenn man bedachte, in welchem Zustand er sich gerade befand, wirkte er verdammt gelassen. »Ich interessiere mich sehr wohl für die Person, mit der ich mein Quartier teile. Ich weiß, dass du eine Mörderin bist«, ich verkrampfte mich innerlich, »aber da muss es doch noch mehr geben. Falls nicht, habe ich ein wirklich schlechtes Urteilsvermögen bewiesen, als ich Anspruch auf dich erhob.«
»Ich habe dich nie darum gebeten.«
»Und trotzdem habe ich es getan.«
Ich tupfte weiter an der Wunde herum, allerdings mit ein wenig zu viel Druck. Warum sollte ich schließlich sanft mit ihm umspringen?
»Ich wurde in Irland geboren«, begann ich schließlich. »In einer kleinen Stadt namens Clonmel. Meine Mutter war Engländerin, sie war vor Scion geflohen.«
Er nickte knapp, und ich fuhr fort: »Ich lebte mit meinem Vater und meinen Großeltern im Goldenen Tal, ziemlich weit im Süden, wo die Milchindustrie angesiedelt war. Dort war es wunderschön, kein Vergleich zu den Zitadellen von Scion.« Ich wrang das Handtuch aus und weichte es erneut ein. »Aber dann wurde Abel Mayfield gierig. Er wollte Dublin. Damit begannen die Molly Riots, brutale Aufstände, auch Mayfields Massaker genannt.«
»Mayfield.« Sein Blick wanderte zum Fenster. »Ja, ich erinnere mich an ihn. Ein unangenehmer Kerl.«
»Du hast ihn getroffen?«
»Ich habe jeden Scion-Anführer getroffen, seit 1859.«
»Aber dann wärst du ja mindestens zweihundert Jahre alt.«
»Ja.«
Ich versuchte meine Hände weiter ruhig zu halten.
»Wir dachten, wir wären in Sicherheit«, fuhr ich fort, »aber irgendwann griff die Gewalt auch auf den Süden über. Wir mussten weg.«
»Was geschah mit deiner Mutter?« Der Wächter sah mich fragend an. »Wurde sie zurückgelassen?«
»Sie ist gestorben. Vorzeitige Plazentaablösung.« Ich lehnte mich zurück. »Wo ist die nächste Bisswunde?«
Er schlug sein Hemd zurück. Die Verletzung zog sich über seine gesamte Brust. Schwer zu sagen, ob sie von Zähnen oder Klauen geschlagen worden war oder von etwas ganz anderem. Wieder verkrampften sich seine Muskeln, als ich Wasser auf die zerfetzte Haut tropfte. »Weiter«, forderte er.
Offenbar war ich also doch kein so langweiliger Mensch. »Ich war acht, als wir nach London zogen«, sagte ich.
»Freiwillig?«
»Nein. In diesem Jahr wurde mein Vater von Sci SORS verpflichtet.« Da ich an seinem Schweigen zu erkennen glaubte, dass er mit dieser Abkürzung nichts anfangen konnte, erklärte ich: » Scion: Special Organization for Research and Science , also die wissenschaftliche Forschungsabteilung von Scion.«
»Ich kenne sie. Warum wurde er verpflichtet?«
»Er war forensischer Pathologe und hatte viel für die Gardaí gearbeitet. Scion hat ihn damit beauftragt, eine wissenschaftliche Erklärung dafür zu finden, warum Menschen zu Sehern werden und warum Geister nach dem Tod noch hier verharren.« Selbst ich hörte, wie verbittert ich klang. »Er hält es für eine Krankheit, denkt, das wäre heilbar.«
»Dann kann er deine Sehergabe also nicht spüren.«
»Er ist ein Amaurotiker. Wie sollte er?«
Der Wächter ignorierte die Frage. »Hattest du deine Gabe schon von Geburt an?«
»Nicht vollständig. Auren und Geister konnte ich schon als kleines Kind spüren. Dann wurde ich von einem Poltergeist berührt.« Ich unterbrach meine Arbeit und wischte mir über die Stirn. »Wie viel Zeit bleibt dir noch?«
»Ich bin nicht ganz sicher. Das Salz zögert das Unvermeidliche hinaus, allerdings nicht lange.« Das klang ziemlich blasiert. »Wann hast du die Fähigkeit entwickelt, deinen Geist vom Körper zu lösen?«
Unser Gespräch hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich entschloss mich, ehrlich zu sein, da er wahrscheinlich sowieso schon alles über mich wusste. Nashira hatte gewusst, dass ich aus Irland stammte, sicherlich hatten sie alle möglichen Aufzeichnungen über uns. Vielleicht war das sogar ein Test, um zu sehen, ob ich ihn anlog.
»Nachdem der Poltergeist mich berührt hatte, hatte ich immer wieder denselben Traum –
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