The Carrie Diaries - Carries Leben vor Sex and the City - Band 1
erledigen. Dann hat man sie hinter sich und kann endlich wieder befreit durchatmen. Aber das ist nichts als graue Theorie. Denn wer hält sich in der Praxis – sprich: im wahren Leben – schon daran? Eben. Lieber schiebt man das Unvermeidliche vor sich her, zögert es hinaus, verdrängt es, bis aus einer Kleinigkeit ein Riesenproblem geworden ist und man an nichts anderes mehr denken kann. Es ist nur ein Anruf, sage ich mir immer wieder. Aber dann fallen mir ständig irgendwelche anderen Dinge ein, die dringend noch erledigt werden müssen.
Zum Beispiel muss der Dachboden über der Garage endlich mal aufgeräumt werden. Und genau das mache ich gerade – angetan mit einer Daunenjacke, flauschigen Handschuhen und einer Nerzstola. Der Nerz gehörte meiner Großmutter und ist ein besonderes gruseliges Modell mit Köpfen und winzigen Vorderpfoten an beiden Enden.
Ich nehme die beiden Köpfe und halte sie so, dass sie sich anschauen.
»Hallo!«
»Oh, hallo! Wie geht’s denn so?«
»Nicht so gut. Irgendjemand hat mir die Hinterbeine und den Schwanz geklaut …«
»Mach dir nichts draus. Schwänze werden völlig überbewertet. «
Die Stola habe ich in einem Umzugskarton aus dem Nachlass meiner Großmutter gefunden, der sich, abgesehen von der Stola, als wahre Schatzkiste voller fantastischer Hutkreationen mit Schleiern und Federbesatz entpuppt hat. Ich setze mir einen der Hüte auf, ziehe mir den hauchdünnen Spitzenschleier über die Nase und stelle mir vor, wie ich auf Mörderabsätzen die Fifth Avenue entlangstöckle und auf meinem Weg zu einem Geschäftsessen im Plaza kurz bei Tifany stehen bleibe, um einen Blick ins Schaufenster zu werfen.
Den Hut immer noch auf dem Kopf, räume ich ein paar weitere Kartons beiseite und gehe dabei so systematisch vor, als würde ich nach etwas Bestimmtem suchen, obwohl ich selbst nicht weiß, was das sein sollte.
Als ich einen Karton öfne, in dem laut Aufdruck einmal Dosenmais von Del Monte verpackt gewesen ist, steigt mir der typische leicht modrige Geruch von alten Taschenbüchern in die Nase. Meine Großmutter bezeichnete sich selbst immer als »passionierte Leserin« und war stolz darauf, wöchentlich mindestens fünf Bücher zu lesen, wobei ihre Lektüre hauptsächlich aus Liebesromanen und Sagen des klassischen Altertums bestand. Im Sommer verbrachten wir die Wochenenden oft in ihrem Strandhaus, wo ich Bücher verschlang wie Süßigkeiten und
davon träumte, eines Tages selbst zu schreiben. Ich betrachtete verzückt die Fotos der Autorinnen auf den Rückseiten der Buchdeckel – sorgfältig frisierte Frauen, die in nachdenklicher Pose auf roséfarbenen Chaiselongues oder in Himmelbetten lagen. Ich wusste, dass diese Schriftstellerinnen unfassbar reich waren und im Gegensatz zu den Heldinnen ihrer Romane ihr eigenes Geld verdienten und nicht darauf angewiesen waren, von irgendeinem Mann gerettet zu werden. Die Vorstellung, selbst einmal eine Schriftstellerin wie sie zu sein, erfüllte mich mit einer heimlichen, beinahe schon sexuellen Erregung, die mir jedoch gleichzeitig auch Angst machte: Wenn eine Frau derart unabhängig war, brauchte sie dann noch einen Mann? Würde sie überhaupt noch einen wollen? Und wenn nicht, was für eine Art Frau wäre sie dann? Mehr noch: Wäre sie überhaupt noch eine richtige Frau? Denn mir kam es so vor, als hätte eine Frau im Leben nur eines zu wollen – einen Mann.
Ich glaube, ich war damals ungefähr acht, vielleicht auch schon zehn oder sogar zwölf. Als mir der Geruch der Bücher jetzt in die Nase steigt, ist es, als würde ich wieder den Geruch des kleinen Mädchens aus meiner Kindheit einatmen. Eines habe ich seitdem allerdings dazugelernt: Ganz egal, was passiert und was einmal aus mir wird, ich werde wohl immer einen Mann haben wollen.
Ist das nicht irgendwie erbärmlich?
Ich mache den Karton wieder zu und öffne den nächsten. Und plötzlich habe ich gefunden, wonach ich, ohne es zu wissen, gesucht habe: eine weiße Schachtel mit vergilbten Kanten, in der man gebügelte Herrenhemden von der Reinigung zurückbekommt. Ich hebe den Deckel ab, nehme das darin liegende alte Schreibheft heraus und schlage die erste Seite auf,
auf die ich mit meiner damals noch krakeligen Kleinmädchenschrift den Titel geschrieben habe: Die Abenteuer von Pinky Weatherton.
Die gute alte Pinky! Ich habe sie erfunden, als ich sechs war. Pinky war eine Spionin mit Superkräften. Sie konnte sich auf die Größe eines Fingerhuts zusammenschrumpfen
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