The Cutting
auf Shockley, sauer auf die ganze Welt. Wenigstens hinterließ das kalte Bier ein angenehmes Prickeln in seiner Kehle.
McCabe ging in den Flur und lehnte sich an Caseys Türrahmen. Die Tür stand offen. Sie lag auf ihrem Bett auf dem Bauch, die Füße auf dem Kissen, den Kopf über der Kante baumelnd, und las allem Anschein nach in einem Physikbuch, das vor ihr auf dem Fußboden lag. Ihm war überhaupt nicht klar, wie sie in dieser Position lesen konnte, aber für sie schien das kein Problem zu sein. Sie war eine sehr gute Schülerin.
»Hallo, Schätzchen, ich bin wieder da«, rief er ihr über die Musik hinweg zu. Casey hob den Kopf und ließ ihn, als hätte sie seine Anwesenheit gar nicht wahrgenommen, wieder sinken. McCabe ging zur Stereoanlage und drückte den An-/Aus-Schalter. Stille durchflutete den Raum. Casey blickte wieder auf. »Habe ich dir nicht genau darum den iPod geschenkt?«, sagte er. »Damit ich diesen Krach nicht mehr ertragen muss?«
»Das ist kein Krach. Das ist Propaganda.«
»Was?«
»Propaganda. So heißt die Band. Die sind gerade voll angesagt.«
»Das hört man. Den iPod. Bitte.«
Wortlos wälzte sie sich vom Bett, ging zu ihrem Schreibtisch, schnappte sich den iPod, steckte sich die Ohrstöpsel in die Ohren und nahm ihre Position auf dem Bett wieder ein. McCabe zog sich ins Wohnzimmer zurück.
Er warf die Rechnungen auf den kleinen Sekretär in der Ecke zu den anderen ungeöffneten Briefumschlägen. Dann setzte er sich in seinen großen Sessel und legte die Füße auf den gläsernen Couchtisch. Mehr Rechnungen als Geld. Immer. Wie lange konnte er es sich noch leisten, Polizist zu sein? In ein paar Jahren musste er zu allem anderen, was er sich nicht leisten konnte, auch noch Caseys College bezahlen. Er könnte die Eigentumswohnung verkaufen. In eine kleinere Wohnung etwas weiter weg vom Meer ziehen. Rückwärts gehen. Tiefer sinken. Vielleicht hatte Sandy das Richtige getan, als sie ihn wegen eines reicheren Typen verlassen hatte. Vielleicht würde der reiche Typ ja das College bezahlen. Die Vorstellung deprimierte ihn.
Vielleicht sollte er tatsächlich kündigen, sobald der Fall Dubois abgeschlossen war. Oder Shockley setzte ihn, weil er das Maul so weit aufgerissen hatte, sowieso vor die Tür, sobald er keinen politischen Preis mehr dafür zahlen müsste. Ein Typ, den er noch von der Uni kannte und der jetzt Geschäftsführer einer höchst erfolgreichen Biotech-Firma in Boston war, hatte ihm mal einen Job im Werksschutz angeboten. Die Dollars, die damals im Raum gestanden hatten, übertrafen sein momentanes Gehalt bei weitem. Aber trotzdem war er sich nicht sicher, ob es das wert wäre. Vielleicht könnte er ja Privatdetektiv werden. Spade & Archer? Savage & McCabe? Er war ein ganz passabler Bogart-Imitator, aber in der wirklichen Welt gab es verdammt wenige Malteser Falken. Er würde sich die Nächte hauptsächlich mit Schnüffeleien in irgendwelchen Stundenhotels um die Ohren schlagen, um untreuen Ehemännern und Ehefrauen auf die Schliche zu kommen. Nein. Privatdetektiv war gestrichen.
Scheiß drauf. Schluss damit. Reiß dich zusammen. Er war immer noch Polizist, und das war eine Berufung, von der McCabe fest überzeugt war. Raus auf die Straße zu gehen und Bösewichte zu fangen, und zwar so viele wie möglich, um sie anschließend so lange wie möglich wegzusperren. Unkompliziert und respektabel. So gefiel es ihm. Genau deshalb hatte er auch das Film-Studium abgebrochen. Genau darum hatte er den Traum, eines Tages Regisseur zu werden, gegen den bescheideneren Traum eines Polizistendaseins eingetauscht.
Er drückte sich die kalte Flasche an die Stirn, hoffte, dadurch den sich ankündigenden Kopfschmerzen entgegenzuwirken. Er machte die Augen zu. Bilder aus New York tauchten in seinem Kopf auf. Bilder von seinem Bruder Tommy. Seinem großen Bruder. Seinem Ersatzvater. Der Heldenfigur auf tönernen Füßen. Tommy, der Drogenfahnder. Tommy, der Bestechliche. Bilder von TwoTimes, dem Drogendealer. »Kann sein, dass einer mich einmal verarscht, aber zweimal verarscht mich keiner.«
TwoTimes, der Tommy erschossen hatte. Sie hatten das kleine Arschloch zwar geschnappt, aber er war wieder freigekommen. Hatte dazu nicht mal einen Deal gebraucht. War als freier Mann aus dem Gerichtssaal auf die Straße marschiert und hatte wieder angefangen, sein beschissenes Zeug zu verkaufen, und alles bloß wegen dieses beschissenen Alibis. »Ich hab ein Alibi, Euer Ehren. Ich hab gerade meine
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