The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
Augenbraue hob sich überrascht. »Wir sind Ärztinnen.«
»Aber wieso sitzt ihr im Gefängnis?«, hakte Gaia nach.
»Ich fasse es nicht«, sagte eine weißhaarige Frau von der hintersten Bank. Sie hatte überraschend dunkle Brauen, eine schmale Nase und einen unbeugsamen Blick. Irgendwie half ihr Mangel an Freundlichkeit Gaia, sich zusammenzureißen, ein paar Schritte zurück zu tun vom Rand der Verzweiflung.
»Still, Myrna«, sagte Sephie, die neben Gaia auf der Bank saß und sich ihren Rock über den Knien glattstrich. »Wir alle sind beschuldigt, Verbrechen gegen den Staat begangen zu haben: Man sagt, wir hätten die Ergebnisse von Gentests gefälscht oder bei Abtreibungen geholfen oder Babys mit Geburtsfehlern am Leben gelassen.«
»Stimmt das etwa?«, fragte Gaia verblüfft.
»Ich sagte, man beschuldigt uns. Die Enklave hält uns hier fest und lässt uns nur heraus, wenn man uns braucht. Es ist wirklich absurd.«
»Warum macht ihr bei so was mit?«
Sephie lächelte, und ein paar der Frauen rutschten auf ihren Bänken herum. »Was für eine Wahl haben wir denn?«, fragte Sephie. »Wenn wir uns weigern, werden wir hingerichtet wie das Paar heute Mittag. Es ist ja nicht so, dass wir noch jung genug wären, um Kinder zu kriegen. Wäre da nicht unser Sachverstand, wir wären schon lange entbehrlich.«
»Ich begreife das nicht«, sagte Gaia. »Eure Freunde und Familien müssen doch etwas dagegen tun. Können sie euch nicht herausholen?«
Sephie schüttelte den Kopf. »Du bist naiv, Gaia. Ich fürchte, du wirst nur allzu bald feststellen, dass nicht alles in der Enklave so rosig ist. Unsere Freunde haben Angst, und zu Recht. Außerdem lässt man hin und wieder die Anklage gegen eine von uns fallen und lässt sie gehen. Wir alle leben für diese Hoffnung.«
Gaia sah nach oben, zum mittleren der drei Fenster und dem fernen Rechteck grauen Himmels darin. Es war, als ob man die Menschen außerhalb der Mauer bewusst getäuscht hatte. Dieser herrliche Ort war die ganze Zeit voller Grausamkeit und Ungerechtigkeit gewesen. Die Enklave hatte ihren Vater getötet, einen der besten und liebenswürdigsten Menschen, die man sich denken konnte. Der Platz vor der Bastion war heute mit Massen scheinbar normaler, doch vollkommen herzloser Menschen gefüllt gewesen. Wäre sie auch so geworden, wenn sie hier aufgewachsen wäre? »Ich verstehe diesen Ort nicht«, sagte Gaia.
»Willkommen im Club«, sagte Myrna trocken.
Gaia beugte sich vor und barg ihr Gesicht in den Händen. Ihre rechte Wange war mittlerweile angeschwollen, und die vernarbte Haut ihrer linken rieb sich in vertrauter Weise an ihrer Handfläche. Ihr jüngster Verlust schmerzte noch viel mehr, auch wenn er keine sichtbare Narbe hinterließ. Sie stieß einen Laut der Verzweiflung aus. Ihr Vater. Sie fühlte ein Gewicht auf ihrer Brust, das ihr den Atem raubte. Es war gut möglich, dass sie ihre Mutter heute Morgen das letzte Mal gesehen hatte.
»Ist ja gut«, flüsterte eine dunkelhäutige Frau in mildem Singsang und rieb ihr tröstend die Schultern.
Ihre Freundlichkeit ließ die Tränen hervorbrechen, die sie zurückzuhalten versucht hatte, und Gaia wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Sephie wollte sie in den Arm nehmen, aber Gaia schob sie zur Seite und rollte sich auf der Holzbank zusammen, ihr Gesicht zur Wand. Jemand breitete eine Decke über sie und schob etwas Weiches unter ihren Kopf. Ein paarmal noch rief sie leise nach ihrem Vater, dann wurde sie gnädigerweise vom Schlaf überwältigt.
10
Blaubeeren im Trockensee
Als kleines Mädchen hatte Gaia sich beigebracht, im Schlaf so still zu liegen, dass sie sich nie in ihrem Moskitonetz verfing. Sobald aber der Morgen den Himmel in ein rosiges, trockenes Orange tauchte und es nicht länger darauf ankam, rollte sie sich manchmal im Halbschlaf auf die Seite, bis sie unverhofft die Berührung des kühlen, hauchdünnen Stoffs auf ihrer Wange spürte. Die blinde Angst, zu ersticken, weckte sie dann ganz. Sie rang nach Atem, bis ihr einfiel, ach, es ist ja nur das Bettnetz . Dann ließ sie sich wieder in die Kissen sinken und streckte eine matte Hand zum Scheitelpunkt des spinnwebenfeinen Zelts.
Im Sommer, in dem sie elf wurde, verpflanzten ihre Eltern ihr Bett vom Dachzimmer auf die hintere Veranda, damit sie wenigstens eine schwache Brise abbekam. Eines Morgens war das Windspiel ganz still, und der große, schwere Wasserkrug hing bewegungslos an seiner Kette. Wasser war auf seiner Außenseite
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