The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
eingefallenen Schultern, der sie über einen Schreibtisch hinweg ansah. Seine weiße Kleidung wirkte maßgeschneidert und streng, aber nicht direkt wie eine Uniform. Der Schreibtisch war eigenartig. Er hatte eine Glasplatte mit einer Lichtquelle darunter, sodass Kinn und Nase und Brauen des Mannes von unten her angestrahlt wurden, was ihm ein unheimliches Aussehen verlieh.
»Das ist das vernarbte Mädchen von außerhalb«, sagte die Wache. »Gaia Stone.«
»Das sehe ich selbst«, erwiderte der Mann gereizt. »Und was ist mit dem Rest von euch?«
Die Wachen standen einen Moment nur verdattert da.
Winston räusperte sich. »Danke«, sagte er zum Anführer der Wachmannschaft. »Wir übernehmen ab hier.«
Die Wache aber blieb stur. »Sie ist gefährlich. Ich bin angewiesen, alle Vorsicht walten zu lassen.«
»In der Tat«, sagte Winston. »Und das hast du getan. Lass mich dich nach draußen geleiten.«
Sie ließen Gaia stehen und schlossen die Tür hinter sich. Sie hörte, wie sich Winston und die Wachen über den Flur entfernten. Ihre Hände waren noch immer auf dem Rücken gefesselt, und sie fühlte sich matt von all den Stößen, die man ihr gegeben hatte, doch sie holte tief Atem und zwang sich, ruhig zu bleiben. Nach dem, was die Wache der Frau des Protektors gesagt hatte, musste der alte Mann Bruder Iris sein.
Er sieht nicht aus wie ein Folterknecht , dachte sie, und dieser Raum scheint eher eine Bücherei als eine Zelle zu sein. Und dennoch. Sie fragte sich einen Moment, was geschehen wäre, wenn sie vor vielen Wochen mit ihrem Band am Südtor vorstellig geworden wäre und um Audienz bei Bruder Iris ersucht hätte, so wie Leon es ihr geraten hatte.
Er rückte seine Brille zurecht. Seine Aufmerksamkeit war noch immer auf seinen Schreibtisch gerichtet. Gaia machte einen kleinen Schritt nach vorne und erkannte, dass die Oberfläche des Tisches ein einziger Bildschirm war, mit Dutzenden einander überlappenden Bildern.
»Komm her«, sagte er ungeduldig.
Während Gaia lautlos über den dicken Teppich ging, berührte er die Oberfläche des Tisches mit seiner Fingerspitze, und eine Szene erschien: ein junger Mann am Trockensee und eine rothaarige Frau, die ein Kind wiegte. Die Sonne ging gerade auf, und beide Eltern trugen einfache Arbeitskleidung. Die Frau hatte ihren Hut abgesetzt und um den Hals hängen. Sie lächelten, und ihre Münder bewegten sich, doch Gaia konnte ihre Stimmen nicht hören.
»Ja, hierher«, sagte der Mann. und bedeutete ihr, sich neben ihn zu stellen. »Genau hierher. Nicht zu nahe«, sagte er und rümpfte die Nase, als ob ihr ein unangenehmer Geruch anhaftete.
»Seid Ihr Bruder Iris?«, fragte sie.
»Pass auf«, befahl er und zeigte auf den Bildschirm.
Gaia sah genauer hin, und als sie erkannte, dass die Frau auf dem Bildschirm Emily war, lachte sie auf. »Oh!«, sagte sie. »Ich kenne sie! Also hat Emily ihr Kind gekriegt. Ist es ein Junge?«
»Ja«, sagte der Mann.
»Aber wann war sie denn in einem Film?«, fragte Gaia.
»Unglaublich«, murmelte der Mann zu sich selbst. »Das ist jetzt , Mädchen«, sagte er. »Es ist in diesem Moment eine Kamera auf sie gerichtet. Sie machen einen Morgenspaziergang, bevor sie zur Arbeit gehen.«
Gaia musste seine Worte einen Moment auf sich wirken lassen. Dann begriff sie, dass die Enklave überall um Wharfton herum Kameras platziert haben musste. Natürlich war sie immer davon ausgegangen, dass es ein paar Informanten in Wharfton gab, die für die Enklave ein Auge offen hielten, doch nie hätte sie gedacht, dass man sie tatsächlich in Echtzeit von Kameras ausspionieren ließ. So kam es also, dass die Enklave über alles Bescheid zu wissen schien, kaum, dass es passierte.
»Habt Ihr überall Kameras?«, fragte sie.
»Jetzt sieh gut hin«, sagte der Mann. »Du sollst etwas lernen.«
»Wenn Ihr Bruder Iris seid«, fragte sie nervös, »wisst Ihr dann, wo meine Mutter ist?«
Der Mann packte Gaias Arm mit unerwarteter Stärke und kam mit seinem Gesicht ganz nahe an ihres. »Natürlich weiß ich, wo deine Mutter ist. Doch jetzt sollst du dir das hier ansehen.«
Er schlug so heftig mit der Hand auf den Tisch, dass die Bilder einen Moment verwackelten. Gaia war sprachlos; er redete von ihrer Mutter in der Gegenwart, und er wusste, wo sie war.
Mit neu aufkeimender Hoffnung richtete sie gehorsam den Blick auf den Schirm und sah einen riesigen schwarzen Raben auf den Steinen vor Emilys Füßen landen. Kyle zeigte mit großen, linkischen Gesten
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