The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
hob sie auf und drückte sie ihr in die Hand.
»Schneller!«, bellte der Wachmann, und kaum, dass sie ihre Schuhe angezogen hatte, packte er sie wieder und fesselte ihr grob die Hände auf dem Rücken.
»Wohin bringt ihr sie?«, fragte Cotty.
Auch die anderen Frauen kamen herbeigeeilt. Entsetzt sahen sie zu, wie die Wachen Gaia zur Tür trieben. Als eine von ihnen zu weinen begann, musste Gaia an den Tag denken, als man Sephie abgeholt hatte. Sie warf einen letzten Blick über die Schulter zu Myrna, die alleine unter den Fenstern stand, während die anderen Frauen verängstigt beieinanderstanden. Myrnas Gesicht war versteinert, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt.
»Hast du gehört? Deine wichtigste Aufgabe ist, zu überleben !«, sagte Myrna noch einmal.
Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Wenn Gaia je geglaubt hatte, dass sie der Ärztin egal sei, wusste sie jetzt, dass sie sich getäuscht hatte. Cotty hatte recht gehabt. Der scharfe Befehlston, der Sarkasmus: Das war Myrnas Art, Zuneigung zu zeigen, und nun würde sie Myrnas letzten Rat beherzigen.
Schon führten sie Gaia über mehrere Treppen und einen anderen Gang entlang. Sie war kaum in der Lage, Schritt zu halten, und nur der grobe Griff der Soldaten, einer auf jeder Seite, bewahrte sie davor, zu stürzen. Als sie den Haupteingang erreichten, sah sie sich verzweifelt um, in der Hoffnung, Leon irgendwo zu entdecken, doch da waren nur etliche schwarz gekleidete Wachen. Ein halbes Dutzend von ihnen eskortierte sie im Gleichschritt aus dem Gefängnis. Dann ging es unter dem steinernen Bogen hindurch in die kühle, dunkle Luft des verlassenen Platzes. Nebelschleier umhüllten den Obelisken in seiner Mitte.
Sie dachte wieder an den ersten Tag, als sie hier gewesen war und man in der Dämmerung einen Mann zur Bastion gebracht hatte, genau wie nun sie. Später wurden die Schwangere und ihr Mann gehängt. Todesangst befiel sie, und ihre Füße weigerten sich, sie weiter zu tragen.
»Los jetzt«, blaffte der Wachmann zu ihrer Linken sie an und stieß sie vorwärts, sodass sie fast einen ihrer großen Pantoffel verlor.
Die Wachen brachten sie direkt zur Bastion, und Furcht und kalte Luft erfüllten Gaias Lungen.
»Nein«, flüsterte sie und schrak zurück, doch die beiden Wachen hoben sie an den Armen und schleppten sie die Stufen empor. Oben stellten sie sie wieder auf die Füße, und während sie darauf warteten, dass die Tür sich öffnete, hatte Gaia zum ersten Mal Gelegenheit, wieder Atem zu schöpfen. Eine der Wachen beugte sich vor und strich ihr die Strähnen aus den Augen.
Gaia riss den Kopf zurück und funkelte ihn an.
»Oh«, der saure Atem des Mannes schlug ihr ins Gesicht, »ich dachte, wir hätten hier was Hübsches, aber sie ist ein echtes Ekel.«
Der Wachmann vor ihr drehte sich kurz um. »So wissen wir wenigstens, dass wir die Richtige haben«, sagte er knapp. »Ihre Narbe.«
Gaia brannte vor Verachtung, doch alles war besser als die blinde Panik von vorher. Sie stand nun aufrecht und fixierte den Wachmann kalt. Er hatte hervorquellende Augen, und über seinen anzüglich grinsenden Lippen ragte eine rot gesprenkelte Knollennase.
Gaia richtete ihren Blick nach vorne, auf die Tür.
Der Wachmann kniff sie heftig in den Arm, und sie keuchte vor Schmerz. »Hältst dich wohl für was Besseres, hm?«, flüsterte er.
Sie biss die Zähne zusammen und hoffte inständig, dass dieser Mann sie nicht lange in seiner Gewalt haben würde.
»Du bist nichts als ein billiges Flittchen von außerhalb der Mauer«, zischte er.
Die Tür öffnete sich, und sie betraten ein hell erleuchtetes Treppenhaus, dem ein unverhoffter schwacher Duft anhaftete. Die Wachen verstummten, und nach einem letzten Stoß hielten sie ein wenig Abstand.
Sie stand in einem riesigen, weitläufigen Raum, der in starkem Gegensatz zu der schlichten, funktionalen Fassade des Gebäudes stand. Nichts, was sie jemals im Tvaltar gesehen hatte, hatte sie auf diesen Anblick vorbereitet. Am Fuße einer herrschaftlichen weißen Treppe, die sich in einem doppelten Bogen nach oben schwang, standen zwei Kübel mit Gardenien, die die Quelle des Dufts waren. Weiße Bodenplatten, mit kleineren schwarzen Fliesen durchsetzt, verzierten den Boden in verspielter Geometrie. Jenseits der Treppe schienen die Wände ganz aus gläsernen Türen zu bestehen, und hinter den Scheiben sah sie das grüne Licht eines Wintergartens. Unmittelbar zu ihrer Linken und Rechten befanden sich enorme
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