The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
und Bruder Iris neigte den Kopf und beobachtete sie. »Du hast noch eine Frage?«, stellte er trocken fest.
»Wieso habt Ihr nicht vorher schon Buch über die leiblichen Eltern geführt?«, fragte sie. Es schien der naheliegendste Gedanke zu sein.
Er hob eine Braue und lehnte sich etwas zurück. »In der Tat. Wieso nicht? Es gab da eine irregeleitete Vorstellung von Gleichheit und Fairness – alle Babys von draußen waren gleich würdig, also gab es theoretisch keinen Grund, ihre Herkunft nachzuvollziehen. Sie waren vollwertige Mitglieder ihrer neuen Familien, mit allen Rechten eines Enklavengeborenen. Keine Verbindungen nach draußen. Das war damals der Grundsatz, vor vielen Jahrzehnten, als die Enklave noch missbrauchte Kinder von draußen rettete. Außerdem sollte die Anonymität das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen befördern: Es gab eine gemeinschaftliche Pflicht, die Kinder großzuziehen und die bestmögliche Enklave für alle zu schaffen. Natürlich war das absurd. Erziehung funktioniert nicht in so großem Maßstab. Es liegt in ihrer ureigensten Natur, eine individuelle Angelegenheit zu sein. Und doch glaubte selbst die Familie des Protektors einst an die Anonymität.«
Gaia dachte an Leon, der vom Protektor und seiner ersten Frau adoptiert worden war. Niemand wusste, wer seine leiblichen Eltern waren.
»Es gab auch praktische Gründe«, fuhr Bruder Iris fort. »Einige der weniger weitsichtigen Eltern wollten die Adoptionen nachverfolgen und ihren Nachwuchs zurückfordern. In einem Fall brach ein Großvater tatsächlich in die Enklave ein und versuchte, einen Zweijährigen an sich zu bringen, den er für seinen Enkel hielt. Die Eltern diesseits der Mauer wollten sicherstellen, dass sich so etwas nie wiederholte, und so gab es fortan keine Aufzeichnungen.«
Bruder Iris’ Blick verfinsterte sich. »Mittlerweile jedoch ist der Code deiner Mutter – oder deines Vaters, sollte ich sagen – lebenswichtig.«
Sie konnte ihre Verwirrung und Frustration nicht verbergen. »Ich sehe immer noch nicht ein, weshalb«, sagte sie. »Was nutzt es denn, zu wissen, wer die Eltern sind? Wenn es nur um die Gene geht, wäre es dann nicht einfacher und präziser, die DNS jedes Bürgers zu untersuchen?«
Er sah sie neugierig an. Dann fuhr er mit einem Finger die Kante des Schreibtischs entlang, die Stirn in grüblerische Falten gelegt. »Du erweist dich als durchaus interessante Mischung aus Gerissenheit und Ignoranz«, sagte er mit einem eigenartigen Beiklang. »Weißt du denn, was DNS ist?«
»Ich weiß, dass sie der genetische Code eines Menschen ist, und der Code jedes Menschen ist einzigartig wie sein Fingerabdruck.«
Bruder Iris runzelte die Stirn. »Das ist so weit richtig. Wir haben die DNS vieler Familien innerhalb der Mauer untersucht. Menschen, um die wir uns Sorgen machen. Jetzt stellen wir einen Zusammenhang zwischen den Genen und bestimmten Krankheiten her. Bei einigen der simpleren Fälle, wie der rezessiv vererbten Hämophilie, wissen wir schon seit Längerem, woran es liegt. Andere Probleme, wie Unfruchtbarkeit, sind sehr viel komplizierter.«
»Könnt ihr dann nicht einfach auch die DNS aller Leute außerhalb der Mauer sammeln?«, fragte sie. »Das wäre doch kein zu großer Aufwand, oder? Wüsstet ihr dann nicht, wie die Menschen miteinander verwandt sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Das wäre, wie noch mehr Heu auf den Heuhaufen zu werfen, in dem wir nach der Nadel suchen. Die DNS alleine, ohne die Familienzusammengehörigkeit, bringt uns nicht viel weiter, wenn wir ein bestimmtes, maßgebliches Gen isolieren wollen. Doch genug davon. Von dir brauchen wir die Namen der leiblichen Eltern aller vorgebrachten Kinder aus dem dritten westlichen Sektor«, sagte er. »Das ist unsere oberste Priorität. Dein Code ist der Schlüssel dazu.«
»Aber …« Gaia war noch immer verwirrt.
»Sei ein gutes Kind«, sagte er ironisch und fasste sich an die Brille auf seiner Nase. »Leiste deinen Beitrag. Entziffere den Code.« Er drückte einen Knopf, und ein langes Stück Papier kam aus einem Schlitz an der Seite des Bildertischs gefahren. Dann noch eins. Er zog die Blätter heraus und reichte sie ihr. »Das ist eine Vergrößerung der ersten Hälfte. Falls du mehr brauchen solltest, lass es mich wissen.«
Gaia nahm die vergrößerte Kopie des Bands an sich. Jeder Seidenfaden war deutlich zu erkennen und doch ein einziges Rätsel. Bruder Iris gab Sergeant Bartlett ein Zeichen, woraufhin dieser
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