The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder
Zeichen sahen nicht wie ein Alphabet aus. Sie rieb sich die Stirn und kämpfte Verzweiflung und Furcht zurück.
»Denk nach«, sagte Sergeant Bartlett sanft. »Denk an alles, was dein Vater dir je beigebracht hat. Irgendwo in deinem Verstand muss es sein. War er ein gebildeter Mann? Sprach er andere Sprachen?«
»Er war nur ein Schneider«, antwortete sie.
Ihr Vater war Autodidakt gewesen, hatte nie ein Schnittmuster gebraucht, weil er sich den Zuschnitt jedes Teils vor seinem geistigen Auge hatte vorstellen können, selbst bei den kompliziertesten Kleidern, und nie hatte er einen Fehler gemacht. Aber er hatte auch Spiele und Tricks und Geheimschriften und Rätsel geliebt. Sie dachte wieder daran, wie er das Alphabetlied rückwärts gesungen hatte. Stundenlang hatte er Banjo spielen und seine eigenen Melodien erfinden können.
Grübelnd beugte sie sich über den Code. Sie konnte das schaffen. Sie musste – irgendwie. Sie dachte an ihren Vater, seine Näharbeiten und seine geschickten, feingliedrigen Finger und versuchte, sich in seine Gedankenwelt zu versetzen. Ihr Blick ging ins Leere, und sie hörte den rhythmischen Klang der Tretkurbel und das Summen und Klicken der Nähmaschine. Dann aber drang Sorge in ihren Verstand, wie ein langsam steigender, unterirdischer Strom.
»Wenn er nur noch am Leben wäre«, murmelte sie.
»Das ist er. In dir«, sagte Sergeant Bartlett und lächelte sie aufmunternd an. »Ich muss gehen. Aber später komme ich wieder und bringe dir etwas zu essen. Wenn du sonst etwas brauchst, ein Wörterbuch zum Beispiel, kann ich dir auch das bringen.«
Sie schluckte und nickte dann, den Blick bereits auf die Symbole geheftet. Nicht daran denken, dass die Uhr gegen dich läuft , sagte sie sich. Oder dass Moms Leben davon abhängt. Denk nur an Dad. Sie schloss die Augen und hörte wieder den Klang der Tretkurbel. Sie beschwor ein Bild von ihm herauf, wie er am Fenster an seiner Maschine saß, nach vorne gebeugt, den Blick auf den unter der Nadel durchgleitenden Stoff gerichtet. Sie kam zu ihm, er unterbrach seine Arbeit, lehnte sich zurück und streckte die Arme über dem Kopf. Seine braunen Augen waren freundlich und warm, seine Stimme fröhlich. Dann beugte er sich vor und zog mit einem kleinen, neckenden Ruck, den sie noch immer fühlen konnte, an einem ihrer Zöpfe. »Na, du Zwerg?«
Es schmerzte, an ihn zu denken, selbst die glücklichen Erinnerungen taten weh, doch sie versuchte, sich alles vor Augen zu rufen. Eingedenk seines umgedrehten Alphabets, das ihre Mutter für die Nachricht über Danni O benutzt hatte, zog sie den Spiegel aus ihrer Tasche und versuchte, die Symbole im Spiegel zu betrachten:
So herum sah es genauso unverständlich aus.
Eine weitere Stunde verstrich, und das Einzige, was sie erreichte, war ein verspannter Nacken. Sie streckte sich und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie hatte mehrere Symbole ausgemacht, die sich wiederholten, aber keines in einer Weise, die Sinn ergab. Das führte alles zu nichts.
Außerdem hatte sie Hunger. Sie stand auf, ging zu der gelben Tür und drehte am Knauf. Sie war verschlossen. Gaia klopfte und fragte sich, wie sie Sergeant Bartlett um etwas bitten sollte, wenn er nicht da war.
Wenigstens konnte sie vom Waschbecken trinken. Sobald sie das kleine Badezimmer betreten hatte, beschloss sie, sich zu waschen. Das Wasser der Dusche war warm und köstlich auf ihrer Haut und schenkte ihrem Körper eine seltsame Behaglichkeit, obwohl ihr Verstand doch so aufgewühlt war. Sie öffnete ihren Mund dem warmen Sprühwasser und trank. Bald trug sie saubere Kleidung, in der Tasche ihres neuen Kleids fand sie ein Paar Socken, bei deren Anblick sie an das zitronenförmige Nadelkissen ihres Vaters denken musste und sich abermals fragte, wie es in den Besitz des kleinen Jungen hatte kommen können. Genauso, ging ihr auf, konnte es mit allem gehen, was sie Bruder Iris mitteilte: Sobald es nicht mehr in ihren Händen lag, hatte sie keine Kontrolle mehr darüber, wo es wieder auftauchte, und wozu man es gebrauchen würde.
Andererseits war es ja nicht so, dass ihr noch eine Wahl bliebe. Solange sie den Code nicht entzifferte, hatte sie nichts in der Hand. Wenn sie ihre Mutter jemals wiedersehen wollte, musste sie wenigstens so tun, als kooperiere sie. Sie musste es weiter probieren.
Sie trat zurück in den kleinen, gelben Raum und rieb ihr kurzes, nasses Haar sachte mit dem feuchten Handtuch trocken. Da bemerkte sie, dass das oberste Blatt auf
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