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The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder

The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder

Titel: The Dead Forest Bd. 1 Die Stadt der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: O'Brien Caragh
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Gegenstücken. Sie war in der Mitte der zweiten Zeile angelangt, ehe sie begriff, dass sie Namen buchstabierte und dass sie diese Namen kannte. Sie liefen von rechts nach links, wie die spiegelverkehrten Buchstaben, und etwas stimmte noch nicht, aber so sah es aus:

    Ihre Eltern. Jasper Stone und Bonnie Orion. Es kitzelte wie Federn auf der Rückseite ihrer Ohren, als erhielte sie eine Nachricht direkt aus dem Grab. Gaia barg ihr Gesicht in den Händen und ließ den Kopf auf den Tisch sinken.
    »Gaia«, sagte Leon sanft. »Was ist los?«
    Er kauerte sich neben sie, sein Gesicht auf einer Höhe mit ihrem, und als sie ihn ansah, standen Tränen in ihren Augen. »Es sind meine Eltern«, sagte sie. »Sie haben diese Liste begonnen, als sie ihr erstes Kind zur Enklave vorbrachten. Meinen ältesten Bruder. Da steht der Name meines Vaters, dann der meiner Mutter.« Sie überflog die nächste Gruppe von Symbolen. »Die einzelnen Worte werden von diesen kleinen Kreisen oder Rechtecken begrenzt«, sagte sie und wies mit dem Finger darauf. »Dieser Teil, dieser sich wiederholende RSXY-Teil, muss ein Datum sein. Bruder Iris hat das schon erkannt. Ich weiß noch nicht, wie die Ziffern funktionieren, aber ich weiß, dass das hier der Geburtstag meines Bruders ist.«
    »Steht auch sein Name da?«
    »Nein. Babys behalten ihre Namen nicht, wenn sie vorgebracht werden. Nur ihre Geburtstage. Mein Vater muss das gewusst haben. Es geht nicht so sehr um die Babys. Eher schon um …« Sie suchte nach den richtigen Worten.
    »Was?«, fragte er.
    Langsam fuhr sie mit der Hand die Schrift entlang. Sie wusste, dass sie nun jeden Namen entziffern konnte und dass sie die Namen vieler Eltern wiederfinden würde, die sie von zu Hause kannte. »Eine Chronik des Verlusts. Ein Verzeichnis der Verluste aller Eltern, Kind für Kind.«
    Ein Abgrund tat sich vor ihr auf und zog sie nach unten. Gaia hatte immer gewusst, dass ihre Eltern ihre Brüder weggegeben hatten, aber es in schmerzhaften seidenen Stichen vor sich zu sehen, versinnbildlichte ihren Verlust auf einer völlig anderen Ebene. Die Kerzen wurden jede Nacht entzündet. Jedes Baby, das ihre Mutter entband, wurde mit den Sommersprossen tätowiert, so als ob jedes von ihnen ein weiterer Sohn, eine weitere Tochter wäre, die Gaias Mutter nicht behalten konnte. Sie erkannte, dass die Liste immer weiterging, Hunderte von Namen. Zwei oder mehr Kinder hatte ihre Mutter jeden Monat abgegeben, und das allein im dritten westlichen Sektor. All diese Babys. All diese Verluste.
    »Was habe ich getan?«, raunte sie betroffen. Sie hatte es fortgeführt. Sie, Gaia Stone, in Erfüllung ihrer Monatsquote, hatte der Enklave persönlich sechs Kinder übergeben.
    »Gaia«, sagte Leon, »nimm’s nicht so schwer. Dich trifft keine Schuld.«
    »Nein«, sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Erst jetzt begriff sie: Sie hatte diese unschuldigen Kinder ihren einfachen, liebenden Eltern weggenommen, damit sie Bürger der Enklave wurden, damit sie Leute wurden, die teilnahmslos bei Hinrichtungen zusahen, die die Inhaftierung ihrer Ärztinnen in Kauf nahmen, die das Leid von Kindern außerhalb der Mauer nicht kümmerte, und schon gar nicht die endlose Haft von Gaias Mutter oder der Tod ihres Vaters. »Was habe ich getan?«, wiederholte sie mit brechender Stimme.
    »Sch…«, versuchte Leon sie zu besänftigen.
    Sie glaubte, das Herz müsste ihr in der Brust zerspringen, da zog Leon sie hoch und schloss sie in seine Arme. »Nein, Gaia«, sagte er ihr ins Ohr, »du darfst dir nicht die Schuld geben. Du hast getan, was du für richtig hieltest.«
    Sie war zu erschüttert, selbst um zu weinen. »Das heißt nicht, dass ich nicht verantwortlich bin. Ich habe diesen Müttern ihre Babys gestohlen und sie dieser – dieser Gesellschaft von Wahnsinnigen überlassen.« Ihre Stimme wurde schrill. »Und was ist jetzt? Ich helfe ihnen selbst in diesem Moment, mit diesem Code!«
    Sie befreite sich aus seinen Armen, nahm den Code und riss ihn entzwei. »Ich bin genauso schlecht wie du!«, rief sie. »Wie jeder von euch!« Sie zerknüllte die Blätter und warf sie von sich.
    Leon hob ratlos die Hände.
    Hätte sie die Wahrheit aus ihrer Brust reißen können, sie hätte es getan. Sie hatte diese Kinder einem Leben ausgeliefert, das alles aushöhlte, was an Anstand und Menschlichkeit in ihnen sein mochte. Vorbringen! Das Wort alleine war blanker Hohn.
    »Wir sind nicht nur schlecht«, sagte Leon

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