The Dead Forest Bd. 2 Das Land der verlorenen Träume
Fräulein Dinah oder Norris. Oder die Matrarch – die werden es dir erzählen.«
»Wieso erzählst du es mir nicht? Was weißt du sonst noch?«
»Ich war ja damals noch ein Kind, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie deshalb auch abgewählt wurde.«
»Wie bitte?« Gaia hatte gedacht, dass ihre Großmutter als Matrarch gestorben war.
Josephine gähnte. »Tut mir leid. Ich dachte, du weißt das. Sie war eine gute Matrarch, fast bis zum Schluss. Dann aber kam sie auf komische Ideen. Sie wollte, dass die Unfruchtbaren Sylum verlassen. Ich weiß nicht, was sonst noch, denn das war der Punkt, an dem die Schwesternschaft sie abwählte.«
»Und dann?«
»Lady Olivia ist zu ihr gezogen und hat sich um sie gekümmert – hier oben, in ihrem Haus auf der Klippe. Dann ist deine Großmutter davongerannt. Norris hat sie irgendwann gefunden. Sie lag im Sterben.«
Gaia wollte ihren Ohren nicht trauen. Josephine war zwar bestimmt nicht gerade die verlässlichste Informantin, aber wenn auch nur ein bisschen davon stimmte …
»Das wusste ich nicht«, sagte sie, streichelte Maya und studierte wieder die Notizen ihrer Großmutter.
»Ich wollte bloß nicht, dass du dir umsonst den Kopf zerbrichst – das ist alles. Vielleicht ergibt es einfach keinen Sinn.« Josephine legte Junie auf die andere Schulter. »Was war sonst noch da drin?«
»Zeichnungen, vor allem von Wassertürmen und Leitungen.«
Sie zuckten zusammen, als vom Eingang lautes Poltern zu hören war.
»Das muss Vlatir sein.« Josephine ging zur Tür.
Gaia grübelte weiter über der Geheimschrift. Wenn ihre Großmutter wirklich eine Verrückte gewesen war, dann eine sehr ordentliche und akribische Verrückte. Gaia konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie dachte an die Geheimschrift ihrer Mutter und wie sie damals Bleistifte als Hilfe zwischen die Zeilen gelegt hatte. Sie griff nach einem Holzlöffel und versuchte es erst waagerecht, dann legte sie ihn senkrecht und hielt inne.
Sie kniff die Augen zusammen und schob den Löffel zurecht, bis er an den Rand der Zeichen stieß. Es passte nicht ganz – doch es kam ihr so vor, als habe sie etwas gesehen.
Sie hörte Josephine draußen lachen.
Gaia wünschte, sie hätte einen Bleistift und Papier. Mit einem letzten Blick auf die Geheimschrift stand sie auf und ging zum Bücherschrank, wo auch ein paar Haushaltswaren verstaut waren. Nach einer Weile fand sie eine Feder, ein Tintenfass und ein paar Blätter Papier.
Josephine und Leon traten ein. Sie lachte wieder, und er hatte die Hände vor dem Bauch zusammengelegt. Seine Augen waren warm, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Ausnahmsweise einmal sah er glücklich aus.
»Ich habe Maya etwas mitgebracht«, sagte er.
Gaias Herz tat einen Sprung. Sie hob ihre Schwester aus der Schlinge und nahm sie aufrecht auf den Arm, damit sie auch etwas sehen konnte.
Leon trat ganz nah heran. »Bereit?«, fragte er das Baby.
Er öffnete langsam die Hände. Auf seiner schwieligen Handfläche saß ein großer schwarzer Käfer, völlig unscheinbar, bis er auf einmal grün aufleuchtete und kurz darauf wieder schwarz wurde. Gaia schnappte vor Entzücken nach Luft, das Baby aber studierte unbeeindruckt Leons Gesicht. Dann strahlte es ihn an.
Leon lachte. »Die Wiese ist voll davon.« Er schloss die Hände, ehe das Glühwürmchen fortfliegen konnte. »Komm mit raus!«
»Im November?«, fragte Gaia. So spät hatte sie noch nie welche gesehen.
»Ich weiß, es ist komisch«, sagte er, »aber du musst es dir anschauen!«
Gaia ließ ihre Sachen auf dem Tisch, legte die Schlinge ab und trug Maya auf die vordere Veranda. Leon hielt Josephine die Tür auf, die aber lächelte und schüttelte den Kopf.
»Ich habe sie schon gesehen«, sagte Josephine. »Sie sind wirklich schön, aber Junie schläft gerade, und ich werde lieber auch eine Mütze Schlaf nehmen, solange ich die Gelegenheit dazu habe. Wenn Maya gestillt werden muss, weckt mich einfach.«
Gaia trat neben Leon auf die Veranda. Es sah so aus, als wären sämtliche Sterne, die sie die letzten zwei Wochen am Himmel vermisst hatte, auf ihre Wiese herabgefallen und erfüllten sie nun mit ihrem sanften Licht.
Die winzigen Punkte bildeten Muster, bewegten und berührten sich und gingen lautlos an und aus, während die Zikaden die Nachtluft mit ihrem beharrlichen Zirpen erfüllten. Nie hatte sie etwas so Zauberhaftes gesehen. Magisch angezogen von der unbeschreiblichen Schönheit, lief sie barfuß die steinernen Stufen hinab.
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