The Dead Forest Bd. 2 Das Land der verlorenen Träume
sie froh darüber, dass ihr Bruder wohlauf war, auch wenn sie sich nie richtig hatten unterhalten können. »Hast du in der Enklave mal einen Jungen namens Martin Chiaro kennengelernt?«
»Er war eine Klasse über mir. Dünner Typ, ziemlicher Einzelgänger. Seine Familie ist für das Feuerwerk zuständig, und einmal bekam er Ärger, weil er im Schulhof etwas abgefackelt hatte. Das ist aber auch schon alles. Warum?«
»Er ist mein großer Bruder, Arthur.«
»Wirklich?« Er musterte sie kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid, aber mehr fällt mir nicht ein. Wir waren nie Freunde.«
Eigentlich wollte sie ja wissen, ob Arthur glücklich aufgewachsen war, ob seine Familie ihn gut behandelt hatte, aber das würde sie wahrscheinlich nie herausfinden. »Jungsstreiche. Immerhin«, sagte sie. Dann widmete sie sich wieder der Karte. Wo Peter sie wohl gefunden hatte? »Der Weg nach Süden führt nicht weiter als bis zur Oase«, sagte sie. »Warst du schon dort?«
»Nein«, sagte er. »Ist schon komisch, dass die Leute den Süden nie erkundet haben – vor allem, wo deine Großmutter ihnen doch von der Enklave erzählt haben muss.«
»Sie kamen nie so weit, wegen der Schwellenkrankheit«, erinnerte ihn Gaia. »Außerdem sind hundert Kilometer Ödland ein gewaltiges Hindernis. Schließlich wissen wir auch, dass es den Mond gibt, versuchen aber nicht, dorthin zu kommen.« Sie griff nach Bachsdatters Aufzeichnungen. »Ich weiß nicht einmal genau, wieso meine Großmutter Wharfton damals verlassen hat. Warum nur hat sie ihre Familie aufgegeben?«
»Vielleicht wollte sie einen besseren Ort für sie finden. Wann ist sie denn weggegangen?«
»Als ich ein oder zwei Jahre alt war. Ich kann mich noch an ihr Monokel erinnern – dasselbe, das die Matrarch jetzt trägt – aber nicht an sie selbst.«
»Dann war das, nachdem du dir deine Narbe zugezogen hast?«
Sie schaute auf. Die Leute hier erwähnten ihre Narbe fast nie, als ob sie unsichtbar wäre. In Wharfton dagegen war sie fast immer präsent gewesen und hatte sie zur hässlichen Außenseiterin gestempelt. Leon aber sah sie, hatte sie mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten erkannt und respektierte Gaia, ohne in eins der Extreme zu verfallen.
»Ja«, sagte sie.
»Wieso trägst du deine Uhr nicht mehr?«
Unwillkürlich berührte sie die leere Stelle an der Brust. »Es fühlte sich einfach verkehrt an. Besser kann ich es nicht beschreiben.«
»Wann hast du sie denn abgenommen?«
»Als ich der Matrarch das mit Peony erzählt habe.«
»Als du aufgegeben hast.«
Sie stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und schaute ihn an. »Manchmal kommt es mir so vor, als würdest du in mir lesen wie in einem Buch.«
Er legte den Kopf schief und hob eine Braue. »Ich dachte nur gerade, was für ein spezieller Fall du doch bist.«
»Wie meinst du das denn jetzt wieder?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir kommen gerade so gut miteinander aus. Belassen wir’s einfach dabei.«
Sie starrte auf das Buch in ihren Händen und fühlte, wie sie errötete. »Du hast doch damit angefangen, als du nach meiner Halskette gefragt hast.«
»Ich hatte bloß Angst, du könntest sie verloren haben.«
»Habe ich nicht. Sie ist bei meinen anderen Sachen, in meiner Tasche.«
»Dann ist es gut.«
Sie kauerte sich auf ihren Stuhl und nahm Bachsdatters kleines Buch zur Hand. Die Seiten waren voller Tabellen: Tage, Temperaturmessungen und Wetterbeobachtung. Die täglichen Einträge waren bis vier Jahre vor dem Tod ihrer Großmutter präzise, ja schon fast obsessiv. Vor zehn Jahren wurden sie unregelmäßiger und brachen vor zwei Jahren endgültig ab.
Sie blätterte sich durch das Buch, Seite für Seite, und fragte sich, weshalb manche der Einträge hervorgehoben waren, vor allem in den Wintermonaten. Dann fiel ihr wieder ein, was Bachsdatter über den Sturm gesagt hatte, und sie las sich die Wetterberichte noch einmal durch.
»Ich glaube, sie hat sich für die Tage mit bedecktem Himmel interessiert.«
»Lass mich mal sehen«, sagte Leon, und sie setzte sich so, dass er auch einen Blick darauf werfen konnte.
»Aber wieso?«
Er blätterte ein paar Seiten weiter. »Schau mal hier, die Verdunstungsmengen. Würde ja einleuchten, wenn an bedeckten Tagen weniger verdunstet.«
»Aber warum das mit solchem Aufwand überprüfen? Suchte sie eine Verbindung zu etwas anderem? Zu Gesundheitsproblemen vielleicht?«
»Kann schon sein.«
»Was wohl in ihren Notizen seht?«
Leon reichte ihr die
Weitere Kostenlose Bücher