The Forest - Wald der tausend Augen
mich dem Wald zu opfern, wenn es darum geht, das Dorf zu retten oder auch nur ihre Stellung hier. Sie ist eine Fanatikerin, sie ist so voller Leidenschaft. Zum ersten Mal verstehe ich die Welt wirklich, in der ich lebe. Nicht die Welt, die ständig bedroht, ständig am Abgrund
ist, in der man fortwährend unter der Last des Waldes lebt. Sondern die Welt dahinter, die beherrscht wird von der Schwesternschaft und ihrer Pflicht, uns zu beschützen und zu erhalten.
Als mir das klar wird, begreife ich auch vollkommen, wie zerbrechlich diese Welt ist.
Schwester Tabitha erwartet von mir, dass ich etwas sage, aber ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Sie muss doch verstehen, was mir jetzt endgültig zur Gewissheit geworden ist: dass ich hier niemals wirklich hineinpassen werde. Nicht als Schwester, Ehefrau, Dorfbewohnerin.
Die Schwestern mögen Wissen und Macht haben, doch Schwester Tabitha hat deutlich gemacht, dass für mich solche Dinge niemals erreichbar wären. Für sie bin ich jemand, dem nicht zu trauen ist, weil ich nicht freiwillig in die Schwesternschaft gekommen bin und weil ich zu viele Fragen stelle und zu viele Antworten suche.
Niemals werde ich Zugang zur Elite bekommen, niemals werde ich ihre Geheimnisse erfahren: Warum sie einen Tunnel in den Wald haben und wozu die Räume benutzt werden, die vom Tunnel abgehen. Als Schwester werden meine Aufgaben nie aus mehr als der Versorgung der Kranken bestehen und ich werde den Altarraum saubermachen, die Schrift lesen und für unsere Seelen beten.
Mein Leben wird immer von Pflichterfüllung beherrscht werden und nie mein eigenes sein.
Das ist eine grauenhafte Erkenntnis und ich sehne mich so nach meiner Mutter, will zu ihr laufen, mich in ihre Arme werfen und bei ihr geborgen sein.
Aber jetzt ist meine Mutter ein Teil jener Welt, von der Schwester Tabitha spricht. Sie ist ein Teil von dem, gegen das wir jeden Tag kämpfen.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt sie: »Du musst hier deinen Platz finden, Mary. Du musst dich Gott ganz hingeben und aufhören, nach etwas anderem zu suchen.« Beim Sprechen beugt sie sich über mich, und ich muss ihrem heißen Atem ausweichen, als sie weitereifert. »Du glaubst, du willst Antworten auf deine Fragen. Aber das ist nicht so. Und du kriegst keine. Denn als Schwestern haben wir uns verpflichtet, dafür zu sorgen, dass solche Fragen nicht gestellt werden. Versteh das – es gibt keine Antworten für dich.«
Mit einem langen Finger fährt sie meine Wange hinunter, ein scharfer Fingernagel auf meiner Haut. »Du wirst unser Ende sein, wenn du diesen Weg weitergehst! Ich kann es fühlen, ich kann es in dir sehen.«
Ein Funke Panik entfacht ein Feuer in mir. Ihre Worte dröhnen mir durch den Kopf: Ich werde das Ende sein. Klick, ein Puzzleteil wurde an den richtigen Platz gelegt. Plötzlich begreife ich, warum Schwester Tabitha mich immer in ihrer Nähe behalten hat, warum sie mir nicht einmal erlaubt hat, das Münster zu verlassen.
»Was verlangst du von mir?«, flüstere ich. Ich denke an Cass und ihre blonden Zöpfe, an ihren Duft nach Sonnenschein und wie sie um Travis geweint hat, als er verletzt
war. Ich kann nicht ihr Ende sein, das Ende von etwas so Süßem und Lichtem.
»Hör auf, Antworten auf Fragen zu suchen, die du nicht einmal stellen solltest! Gib dich deinem Leben hier mit ganzem Herzen hin. Was glaubst du denn, warum dieses Dorf überlebt hat, während der Rest der Welt zugrunde gegangen ist? Warum, glaubst du, konnten wir so lange ohne einen Durchbruch leben? Warum, glaubst du, sind wir vor den Ungeweihten sicher? Ich sag es dir:Weil wir Gottes Zorn nicht herausfordern.Weil wir die Ungeweihten nicht herausfordern. Wir gehen keine dummen Risiken ein, sondern widmen uns Gott und einander.« Ihre Miene ist unergründlich, die Augen weit aufgerissen und weiß.
»Wir haben überlebt, weil die Schwesternschaft das Nötige getan hat. Wir halten Ordnung im Dorf.« Sie starrt aus dem Fenster die immer gleiche Aussicht auf den Wald an. »Stell dir dieses Dorf ohne Ordnung vor.« Wieder schlägt sie mit der Hand auf das Fensterbrett. »Stell dir vor, die Leute würden Gelübde und Eide brechen. Einander bestehlen. So war die Welt vor der Rückkehr. Und sieh dir das Ergebnis an.« Sie schleudert die Hand Richtung Wald, dreht sich um und versengt mich mit ihrem Blick.
»Und deshalb musst du Travis in Ruhe lassen. Ich habe beobachtet, wie du ihn begehrst. Aber
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