The Forest - Wald der tausend Augen
müht sich damit ab, sein schlimmes Bein um das Seil
zu schlingen für mehr Halt, und rutscht ab, beide Beine fallen runter und er kann sich nur noch mit den Armen festklammern.
Dann löst sich sein Griff und er fällt auf den Balkon zurück. Er wischt sich die Hände an den Hosen ab, Mehlwolken steigen auf.
»Wir müssen das Fass rüberschicken«, sage ich.
»Dazu ist keine Zeit«, sagt Jed.
Sogar hier drüben am Rand der Plattform kann ich das Drängen der Ungeweihten hören, sie schlagen die Wände des Hauses ein, das einmal unser Zufluchtsort war. Ich sehe, wie Travis einen Blick über seine Schulter wirft, die Farbe weicht aus seinem Gesicht und er zittert am ganzen Körper.
Meine Kehle schnürt sich zu, als er nach dem Seil langt und es ein zweites Mal um seine Finger wickelt.
Wie um mich zu beruhigen, zu beschützen oder zurückzuhalten, packt Harry meine Schultern. Am liebsten würde ich ihn abschütteln wie eine unnötige Ablenkung, wie etwas, das mich von der anstehenden Aufgabe abhalten will, die darin besteht, all meine Aufmerksamkeit auf Travis zu konzentrieren, als könnte ich ihm mit meiner Willenskraft zu uns rüberhelfen.
Er stolpert und sofort baumelt er über der Kluft, seine strampelnden Beine wirbeln in der Luft. Hinter ihm erscheinen die Ungeweihten in der Dachbodentür und bahnen sich ihren Weg auf den Balkon. Travis beißt sich auf die Lippe, und mir kommt es vor, als würden wir denselben Atem anhalten.
Eine der Ungeweihten, eine junge Frau mit feuerrotem Haar, langt nach Travis, der wie ein Wurm an der Angel zappelt. Beim Versuch, ihn zu packen, fällt die Ungeweihte vom Balkon. Ihre Hände gleiten an Travis’ Beinen entlang, finden an seinen Füßen Halt und plötzlich hängt er nur noch mit einer Hand am Seil.
Die Ungeweihte zieht sich hoch, ihr Gesicht rückt immer dichter an Travis’ Fuß heran. Blutsprenkel sind zu sehen, wo ihre gezackten Fingernägel sich in sein Fleisch bohren. Ihr Mund kommt näher. Seine Finger rutschen ab, zwei hängen schon in der Luft.
Ein Ruck durchzuckt mich und ich gehe zum Seil. Ich will schreien, aber der Schrei bleibt mir in der Kehle stecken und droht mich zu ersticken. Über die Hände der Ungeweihten tropft Blut, sie muss sich sehr anstrengen, weil alles glitschig geworden ist.
Ein anderer Ungeweihter geht auf Travis los, auch er stürzt vom Balkon und reißt die Frau mit, die an Travis Fuß baumelte. Mit einer neuen Leichtigkeit schwingt Travis seinen Körper nach vorn und wickelt beide Beine um das Tau. Er lässt den Kopf ein wenig nach hinten fallen, und ich weiß, dass er die Horde der Ungeweihten ansieht, die kaum eine Armeslänge von ihm entfernt ist.
»Beweg dich«, will ich ihm zurufen, aber wieder bleibe ich stumm. Doch ich spüre, wie Jed und Harry ihm lautlos dasselbe zurufen.
Erst mit einer Hand, dann mit der anderen hangelt Travis sich in unsere Richtung vor. Das Stöhnen der Ungeweihten schwillt an und schlägt über uns zusammen, als
das Seil von seinem Gewicht nach unten gezogen wird und er sich den Horden am Boden immer weiter nähert.
Das Fass, das Argos und mich getragen hat, ist zu schwer gewesen.Wahrscheinlich haben wir die Knoten gelöst oder die Fasern des Seils überdehnt.
In diesem Moment ist die Welt zu grell. Das Licht des sterbenden Tages brennt mir in den Augen, während ich beobachte, wie Travis sich an unsere Plattform heranarbeitet.
Das Seil dehnt sich unter seinem Gewicht und senkt sich noch tiefer und plötzlich ist da ein neues Geräusch. Ein Knallen, als das alte Seil anfängt, sich aufzulösen.
Ich lehne mich vor, doch Harry hält mich zurück. »Wir können nichts machen«, sagt er, aber ich schüttele ihn ab.
Auf dem Bauch robbe ich zum Rand der Plattform und rutsche so weit über den Abgrund, wie ich mich traue.
»Travis«, rufe ich. »Travis, du musst dich beeilen.«
Er schüttelt den Kopf, seine Hände sind jetzt erstarrt. Einer der Ungeweihten stolpert vom Bodenraum auf den Balkon und stürzt sich auf ihn. Im Fallen trifft er das Seil und versetzt es in Schwingung.Wieder knallt es laut.
Das Seil rutscht noch tiefer, unglaublich tief. Die Ungeweihten unmittelbar unter Travis sind jetzt in Ekstase. Sie recken sich und ihre Finger scheinen ihm mit jedem Atemzug näher zu kommen.
»Travis, nun hör doch auf mich.« Wieder schüttelt er den Kopf. Tränen ersticken meine Stimme, schnüren mir die Kehle zu.
»Das Seil reißt«, sagt Jed zu mir. Er spricht leise, damit Travis ihn nicht hört.
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