The Homelanders, Band 2: The Homelanders - Auf der Flucht (Bd. 2) (German Edition)
auf.
Ich trat ein.
Im Inneren der Kirche herrschte eine tiefe Stille, und es war überraschend hell. Von der einen Seite fiel das Mondlicht durch die hohen Fenster in den Raum und erzeugte lange graue, fast silberne Schatten. Es gab nicht viel zu sehen. Keine Dekoration, nur Bänke, eine Kanzel und einen Altar mit einem Kreuz an der Wand dahinter. Über dem Kreuz standen die Worte: »Legt die Rüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils standhalten könnt.« Noch ein guter Rat.
Vorsichtig ging ich den Seitentrakt hinunter und streckte tastend die Hände aus, um nichts umzustoßen. Neben der Kanzel befand sich die Tür zu einer kleinen Sakristei – ein schmaler Durchgang, in dem Priesterroben hingen. Ich schob mich zwischen den Roben zu einer offenen Tür am Ende des Gangs durch, die in eine Toilette führte.
Ich machte das Licht an, stürzte zum Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Mit beiden Händen schaufelte ich mir Wasser in den Mund, trank gierig und ohne abzusetzen. Ich spürte, wie mit dem Wasser die Energie in mich zurückströmte.
Als ich endlich genug hatte, schaltete ich das Licht wieder aus, um zu vermeiden, dass jemand aufmerksam wurde, der zufällig draußen vorbeikam. Ich ging zurück durch den Gang und aus der Sakristei hinaus. In der Kirche suchte ich mir eineBank unter einem Fenster, auf die das Mondlicht fiel. Erschöpft ließ ich mich fallen, streckte mich aus und drehte mich auf die Seite, eine Schulter auf dem harten Holz.
Es war kalt und klamm. Ich klappte den Kragen hoch, legte die Hände unter meine Wange und zog die Arme dicht an den Körper. Das Kinn in der Fleecejacke vergraben, wurde mir nach einer Weile ein wenig wärmer. Warm genug jedenfalls, um etwas Schlaf zu bekommen. Aber ich schlief nicht sofort ein. So erschöpft ich auch war, mein Kopf hörte nicht auf zu arbeiten. Bilder tauchten auf: Der Mann mit dem Messer in der Bibliothek. Die Verbrecher, die es fast geschafft hatten, mich in ihren Wagen zu drängen. Die Streifenwagen, die in der einsamen Straße hinter mir hergerast waren. Die Kugel, die in der kleinen Gasse neben mir ins Holz eingedrungen war und mich nur knapp verfehlt hatte …
Unaufhörlich jagten diese Erlebnisse vor meinem inneren Auge vorbei, und mit jedem Bild schlug mein Herz schneller. So müde ich auch war – ich konnte einfach nicht schlafen. Ich griff in die Innentasche meiner Fleecejacke, in der sich die Kopien der Zeitungsartikel befanden, die ich in der Bibliothek gemacht hatte. Ich hielt die Seiten so vor mein Gesicht, dass ich sie im silbernen Mondlicht lesen konnte. Ich blätterte sie durch, bis ich die Schlagzeile gefunden hatte, nach der ich suchte: »Teenager erstochen aufgefunden.«
Damit war Alex gemeint, Alex Hauser. Wir hatten einander seit dem Kindergarten gekannt und jahrelang fast alles zusammen gemacht, eine Zeit lang sogar gemeinsam Karate gelernt. Dann, als Alex und ich 16 waren, ließen sich seine Eltern scheiden, und sein Dad zog in eine andere Stadt.
Alex litt sehr darunter. Er musste in einen anderen Stadtteilziehen und auf eine andere Schule gehen. Wir beide konnten nicht mehr zusammen rumhängen, so wie früher. Dann geriet Alex in schlechte Gesellschaft und machte Sachen, die er besser hätte sein lassen. Er trank, klaute, prügelte sich und so weiter. Zu dieser Zeit traf sich Alex auch immer öfter mit Beth Summers. Sie war eines der nettesten Mädchen, denen ich je begegnet bin. Unglaublich sanftmütig und immer aufmerksam. Na ja, zugegeben, ich mochte sie auch … Als Alex sich veränderte, fand Beth das nicht so toll und traf sich nicht mehr mit ihm. Da sah ich meine Chance und fragte Beth, ob sie irgendwann mit mir ausgehen würde.
Und sie sagte Ja.
An all das kann ich mich erinnern. All das passierte, bevor mein Gehirn in diese unheimliche, ein Jahr lang währende Dunkelheit getaucht wurde.
Ich erinnere mich auch daran, was an dem Abend passierte, als Alex getötet wurde. Nach dem Training war ich auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Karatestudio, als Alex mit ein paar Freunden ankam. Ihm war zu Ohren gekommen, dass ich mich mit Beth treffen wollte. Zuerst sah es fast so aus, als wollten er und seine Kumpel einen Streit anzetteln, aber dann überlegte Alex es sich anders.
Er stieg zu mir in den Wagen, und wir machten zusammen eine Spritztour. Es war seit Langem das erste Mal, dass wir miteinander redeten. Ich hatte Alex noch nie so aufgebracht erlebt. Er erzählte mir, wie es zu Hause war, seit sein
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