The Homelanders - Im Visier des Todes (Bd. 4) (German Edition)
Abendbrottisch mit meinen Eltern und meiner Schwester Amy, die die Augen verdrehte, während sie vom neuesten unglaublichen Wahnsinn berichtete, den sie in der Schule erlebt hatte … Ich mit meinen Freunden, wie wir in der Mensa an unserem Tisch herumalberten … Mit Beth … Wie ich zu Waterman in den Wagen stieg, um zu erfahren, was ich tun sollte … Wieder ich mit Alex, jetzt als Teenager, die im Auto meiner Mom stritten, bevor er in den Park stürmte, wo Mr Sherman ihn erstach … Der Mordprozess, in dem ich angeklagt war … Das Gelände der Homelanders …
All das flackerte vor meinen Augen auf, als ich nach unten taumelte. Zuerst konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Was passierte mit mir? Wo war ich? War ich das, der da irgendwoin der Ferne schrie? Lag ich im Sterben? Sah so das Ende aus?
Aber dann dachte ich an die Gegenwart: das Große Sterben, Silvester … keine Zeit für Angst und Verwirrung. Keine Zeit!
Ich kämpfte gegen die zunehmenden Schmerzen an und versuchte, mich zu konzentrieren. Das hatte ich schon tausendmal beim Training getan. Bei Gürtel-Prüfungen und bei Kämpfen mit Killern. Ich konnte mich konzentrieren, wenn ich musste. Und jetzt musste ich.
Ich musste diese eine Erinnerung finden und mich in sie hineinfallen lassen. Mit aller Energie, die ich aufbieten konnte, richtete ich meine Konzentration darauf …
Da war es: das Gelände, die Baracke, der bewusstlose Wachmann am Boden …
Ich lenkte meinen Sturz darauf zu.
Es war, als würde ich von einem sehr hohen Sprungbrett springen. Jede Sekunde rechnete ich damit, ins Wasser einzutauchen, aber die Sekunde war endlos und ich fiel immer tiefer und tiefer. Mir drehte sich der Magen um und dann …
Dann hatte ich es geschafft. Ich war da, auf dem Gelände, unter dem Fenster der Baracke. Neben mir lag der bewusstlose Wachmann. Waylon stand über mir, und ich hörte die Stimme von Prince.
Sie wollen keinen Krieg, aber wir leben für den Krieg. Sie fürchten sich vor dem Tod, aber wir lieben den Tod.
Der Mann am Boden regte sich.
Dann entfernte sich Waylon vom Fenster und ich sprang auf. Ich hielt mich am Fenstersims fest, zog mich hoch und schaute hinein.
Es war wieder einer dieser verrückten Doppelmomente. Der Wachmann würde jeden Augenblick um Hilfe rufen, und gleich würde ich erwischt. Aber jetzt war da dieser eine Moment, da ich durch das Fenster hineinschaute …
Sieh hin! , befahl ich mir verzweifelt.
Sherman, Prince, Waylon, der Tisch, der Laptop …
Der Laptop!
Sieh hin, Charlie. Was ist da auf dem Monitor?
Ich sehe es! , rief ich. Ich sehe es!
Wie eine Pranke aus loderndem Feuer, die aus den Tiefen der Erde aufstieg, krallten sich Schmerzen in meinen Körper. Schmerzen, die alles übertrafen, was ich je erlebt hatte.
»Nein!«, schrie ich.
Ich versuchte, dagegen anzukämpfen, aber es war zwecklos. Es war stärker als ich und zog mich vom Fenstersims und von dem Gelände fort. Immer tiefer, hinaus aus der Zeit und der Erinnerung, hinab in einen alles durchdringenden Schmerz.
Ich muss es ihnen sagen! , dachte ich. Lass mich bitte nicht sterben, noch nicht. Mike. Rose. Ich muss ihnen sagen, was ich gesehen habe.
Das war der letzte Gedanke, den ich hatte. Danach war alles weg und es gab nur noch den Sturz, den Schmerz und undurchdringliche Finsternis.
TEIL VIER
26
W IR GANZ ALLEIN
In dem blauen Himmel sah die Sonne aus wie ein Medaillon. Ich schwebte hinauf zum Licht. Einen unheimlichen, friedlichen Augenblick lang dachte ich, ich sei tot und auf der Reise zu einem anderen Ort.
Plötzlich zog sich die Welt in einem schmerzhaften Krampf zusammen. Ich schreckte auf, die Augen geschlossen, die Zähne aufeinandergebissen. Nein, ich war nicht tot. Solche Schmerzen konnte man nur haben, wenn man lebte!
Als sie langsam nachließen, öffnete ich die Augen.
Ich lag auf einem Himmelbett in einem Zimmer mit hohen Fenstern. Die Vorhänge waren zurückgezogen und ich sah ein Stück Himmel. Ich war wieder in diesem Schlafzimmer, in dem ich mit Beth gesprochen hatte. Schwere Vorhänge, bunte Teppiche, überall glänzender Nippes, tickende Uhren. Die Uhren … Das Licht … Es musste Morgen sein … nein, später. Die Sonne stand niedrig, hatte ihren Zenit aber schon überschritten, wie an einem Mittag im Winter. Mein Blick fiel auf eine kleine Standuhr mit Glasgehäuse, die auf einem der Beistelltische thronte. Schon nach zwölf …
Rasch setzte ich mich auf. Zu rasch, denn sofort wurde mir schwindlig und übel.
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