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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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des Wassers, und als ich mich umdrehe, sind die Türme des Kraftwerks etwas kleiner geworden, endlich.
    Ich laufe am Fluss entlang Richtung Westen. Als ich auf einem Hügel einen Tempel erblicke, denke ich an Meister Yan und seinen Tempel der Fünf Heiligen. Doch als ich oben ankomme, finde ich nur verriegelte Gebetshallen und Stoffwimpel, die im Wind flattern und dabei kleine Glöckchen zum Klingen bringen. Um mich herum stehen die braunen Berge, sie schweigen. Sie sehen kahl und ledrig aus.
    Die Straße zieht sich wie eine Ader durch das Land. Geschäfte, Imbissbuden und Werkstätten säumen ihren Rand, und mehr als einmal fühle ich mich an den kleinen Ort Gucheng zurückversetzt, in den Zhu Hui damals zurückkam, um mit mir den Feuertopf zu essen. Ich hole mein Handy hervor und schreibe ihmeine Nachricht, dass er schon einmal eine Cola kalt stellen soll, da ich bereits die Hälfte des Weges zu seinem Zuhause geschafft habe. Seine Antwort kommt sofort: Sieh dich vor, kleiner Lei, der Weg vor dir wird nicht einfacher!
    Ein Schild hängt über der Straße. Es zeigt zwei weiße Pfeile auf blauem Grund, über dem linken steht TIBET und über dem rechten XINJIANG. Es handelt sich um eine Weggabelung, so viel verstehe ich, doch ich denke mir nicht viel dabei.
    Dann biege ich um eine Kurve und traue meinen Augen nicht: Ich stehe vor einem Haus, das die Straße wie ein Keil entzweispaltet. Vor der Hauswand ist ein Obststand aufgebaut. Ein Mann sitzt mit überschlagenen Beinen daneben und starrt missmutig vor sich hin. Ich muss grinsen, als ich die verdächtige Aufschrift an der Wand hinter ihm lese: FRISEURSALON AUS WENZHOU. Die Vorhänge hinter den Fenstern sind heruntergelassen.
    Ich bleibe stehen und betrachte den Mann, das Obst und den vermeintlichen Friseursalon in seinem Rücken. Ich frage mich, ob ihm bewusst ist, an was für einem grandiosen Ort er sitzt. Es ist nicht weniger als ein Scheideweg, der geradewegs aus einem Märchen stammen könnte: Jeder Reisende, der hierherkommt, muss für sich entscheiden, ob er in die Berge will oder in die Wüste, ob ihn die Süße des Obstes lockt oder der Schoß des Weibes oder ob er das Orakel um Rat fragen will, das die Weggabelung mit seinem steinernen Blick bewacht.
    Ich bleibe eine Weile stehen. Der Mann zündet sich eine Zigarette an und beäugt mich argwöhnisch, und ich platze fast vor Aufregung bei der Vorstellung, dass ich jetzt auch einfach den linken Weg nehmen könnte und nicht in den Weiten von Xinjiang, sondern im Hochland von Tibet herauskommen würde.
    Die kriechende Frau fällt mir ein. Wie lange ist es her, dass ich sie gesehen habe, einen Monat vielleicht? Wie weit mag sie mittlerweile gekommen sein? Ich versuche mir vorzustellen, wie sie an dieser Stelle den Weg nach Tibet einschlägt, einem Tempel oder Kloster im Hochland entgegen, den Mann keines Blickes würdigend. Auf ihren Händen und Knien nach Lhasa oder Shigatse.
    Als ich mich endlich losreiße, winke ich dem Mann und seinem Obst einen stummen Gruß zu und gehe rechts vorbei, Xinjiang entgegen. Ich schaffe nur vierzig oder fünfzig Schritte, dann werde ich langsamer, bis ich ein Gebäude mit der Aufschrift HOTEL bemerke und mir erleichtert ein Zimmer nehme.
    Ich werfe meine Sachen aufs Bett und gehe zu der Weggabelung zurück, doch leider entpuppt sich das Orakel als Sauertopf. Der Mann sitzt vor seinen Früchten, raucht und beäugt mich misstrauisch aus den Augenwinkeln. Als ich frage, ob das Haus hinter ihm wirklich ein Friseursalon sei, zuckt er nur mit den Schultern. Ich bleibe eine Weile stehen und lächele dümmlich, während um uns herum der Verkehr brandet. Dann behaupte ich, ich sei gekommen, um Bananen zu kaufen.
    »Bananen«, wiederholt er und wendet mir den Kopf zu, als wäre er gerade erwacht. Ohne hinzuschauen, greift er mit einer Hand hinter sich in die Auslage und lässt ein dickes Bund leuchtend gelber Früchte in die Waage fallen. Zwei Kilogramm. Weil ich das Orakel günstig stimmen will, nehme ich noch eine kleine Melone dazu.
    Laut meiner Karte habe ich den Hexi Zoulang betreten, den »Korridor westlich des Flusses«, einen der wichtigsten Wege der alten Seidenstraßen. Er beginnt hier am Gelben Fluss und legt sich in nordwestlicher Richtung wie eine Falte durch die Berge.
    Auf dem Satellitenbild sieht er tiefgrün aus, und trotzdem bin ich überrascht, als ich mich am nächsten Tag in einem Tal wiederfinde, wie ich es mir üppiger nicht hätte vorstellen können – mit seinen

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