The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Lederetui.
Dreitausend Meter. Ich muss an den Huashan denken, auf dessen Gipfel ich so gefroren habe. Er war nur etwa zwei Drittel so hoch wie Wushaoling. Dort wäre er nichts als eine klägliche Vertiefung im Boden.
Ich erzähle Herrn Liu von meinem Wettlauf auf den Huashan, und als ich zugeben muss, dass mich die Jungs von der Luftwaffe am Gipfel geschlagen haben, lacht er freudig. Er ist pensionierter Offizier der Volksbefreiungsarmee, ein Rentner unter vielen, die den Frühlingstag im Park genießen, nur ein bisschen schneidiger als die anderen mit seinem feschem Sonnenhut und der Uniformjacke. Wir stehen an einer Balustrade und blicken über die Gebäude der Stadt, ab und zu rauscht mit gellendem Pfiff ein Zug vorbei. Ich denke an die dreitausend Meter. Sie hören sich furchtbar hoch an.
Das Dorf Wushengyi klammert sich an die Straße wie ein Adlernest, umgeben vom bläulichen Dunst der Berge. Es heißt »Poststation des militärischen Sieges« und besteht nur aus ein paar Dutzend Häusern und einer Moschee. Ich finde ein Gasthaus und nehme mir ein Zimmer, dann betrete ich einen Imbiss und verderbe mir den Magen.
Es sind die Nudeln. Zuerst grummelt irgendetwas tief in mir, dann läuft mir ein Schauer den Nacken hinunter, und meine Arme und Beine werden kalt. Eine Faust ballt sich in meinemBauch zusammen. Ich kenne dieses Gefühl, es ist ein alter Bekannter. Ich lasse meine Essstäbchen fallen und werfe einen letzten Blick auf meinen Teller, dann drücke ich dem Wirt ein paar Scheine in die Hand und eile mit kurzen, hastigen Schritten zurück auf die Straße. Im Hotel gibt es ein Gemeinschaftsklo, einen langen, gefliesten Raum mit einer Rinne an der Wand. Klopapier muss man sich selbst mitbringen.
Der Raum ist lichtdurchflutet und leer, das ist gut. Ich hasse öffentliches Kacken, aber ich hasse es noch viel mehr, wenn man erst in der Dunkelheit nach einem Ort dafür suchen muss. Selbst in Städten wie Beijing gibt es noch Nachbarschaftsklos, die nachts keine Beleuchtung haben, sodass man nur an den glimmenden Punkten der Zigaretten erkennt, wo bereits überall besetzt ist.
Schritte auf dem Gang. Sie kommen näher, verweilen kurz und entfernen sich wieder. Ich atme erleichtert auf, habe ich doch mein stinkendes Reich für mich allein. Doch plötzlich werden sie wieder lauter.
Es rumst, die Tür wird von einem mächtigen Körper aufgestoßen und schmettert gegen die Wand. Die armen Fliesen , denke ich noch, da steht der Fette auch schon im Raum. Er sieht aus wie ein an Land gespülter Wal, und er schnauft auch so. Ich senke den Kopf. Er wird sich eine Stelle suchen, so weit entfernt von mir wie nur möglich. Dort wird er tun, was er tun muss, und dann wird er verschwinden. Das ist der Ehrenkodex des Klos.
Doch es kommt anders.
Er walzt auf mich zu. Schwere, stampfende Schritte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, stellt er sich direkt neben mir auf und fängt an, in seiner Hose herumzuwühlen. Ich bin schockiert: Der ganze Raum ist leer, und er stellt sich so vor mich hin, dass er genau auf die Wand neben mir zielt?
Ein Furz, ein Ausatmen, ein Regen. Ich bin mit schwerem Gepäck über zweitausend Kilometer marschiert, habe mir einen langen Bart wachsen lassen und einen Streifenfisch nach Deutschland geschickt, Zeitungen und Magazine haben über mich geschrieben. Und jetzt hocke ich hier über dieser Rinne, vor mir der fette Mann, der schwabbelt und wabbelt und schwer atmet, und er pisst gegen die Wand neben mir, und der Strahl bricht sich an der Wand und geht als feiner Sprühregen auf mich nieder.
Das Hotel hat eine Dusche. Es ist zwar nur ein kahler Raum mit einem Loch in der Wand, aus dem nach Chlor riechendes Wasser kommt, aber umso besser! Ich seife mich ein, bis meine Haut rot geworden ist, und meine Klamotten wasche ich gleich mit, es ist ohnehin nicht warm genug für die kurze Hose.
Dann gehe ich zu einem Kiosk und kaufe mir eine Packung Kekse und etwas Cola, das deutsche Wundermittel gegen Dünnschiss. Chinesen lachen sich jedes Mal halb tot, wenn sie davon hören.
Zuerst sehe ich nur ein einsames Türmchen auf einem Hügel, weiß und leicht wie eine Sahnehaube. Daneben ein Netz aus Gebetsfahnen, das in der Sonne leuchtet. Ich bin wieder in Tibet. In den Dörfern höre ich Zischlaute und eine Menge Ös, und zu meiner Schande weiß ich noch nicht einmal mehr, wie man auf Tibetisch Hallo sagt. Aber das macht nichts, die Leute freuen sich trotzdem über den Besucher. Ihre Häuser haben die
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