The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
grünen Feldern, seinen weit ausladenden Bäumen, den Bewässerungsgräben und den lehmigen Dörfern wirkt es wie ein einziger großer Garten, und die Berge verstärken diesen Eindruck noch, denn sie riegeln es auf beiden Seiten ab wie Mauern. Ich bin zur Zeit der Rosenernte gekommen. Am Straßenrand liegen Tücher mit dunklen Blüten, und mehr als einmalhalte ich inne und denke, dass ich wirklich gern gesehen hätte, wie das Tal kurz vor Beginn der Ernte ausgesehen haben mag.
Um kurz vor halb drei stehe ich vor einem Restaurant und warte. Von irgendwoher ertönt ein Hupen, dann noch eines, und schon kommt es von allen Seiten. Der Restaurantbesitzer legt einen Finger an den Mund: Das Hupen ist das Signal für den Beginn des dreiminütigen Schweigens, mit dem im ganzen Land um Punkt 14.28 Uhr der Opfer des Erdbebens von Sichuan gedacht werden soll.
Dieser Moment ist nicht zufällig gewählt worden. Er wird Touqi genannt: Genau sieben Tage haben die Seelen nach ihrem Tod Zeit, um auf der Erde umherzuwandeln, dann werden sie ein letztes Mal daheim erwartet, bevor sie ins Jenseits übergehen.
Als die Hupen verklingen, legt sich Stille über das Tal. Der Wirt und ich stehen in der Tür und blicken nach draußen, und es ist so ruhig, dass sich das Summen der Kühltruhen sehr laut anhört. Ich denke an die roten Zettel, die ich auf den Mauern und Hauswänden von Lanzhou bis hierher gesehen habe, Spendenverzeichnisse, auf denen stand, wie viel Geld bestimmte Gruppen und Personen an das Katastrophengebiet gegeben haben. Ein schwacher Trost für die Toten und die Verletzungen, die das Land erlitten hat.
Als die Schweigeminuten vorüber sind, setze ich mich zu dem Wirt an einen seiner Tische. Er schaltet den Fernseher ein und holt eine Kanne Tee, dazu zwei kleine Tassen. Von draußen fällt die Nachmittagssonne wie dünner Regen durch den Plastikvorhang der Tür herein, ich höre das heisere Röhren eines Motorrollers. Im Fernsehen kommt eine Sendung für die Erdbebenopfer: Lieder und Ansprachen, von Pianoklängen untermalte Kamerafahrten über die Gesichter der Stars und Politiker im Publikum. Der Moderator erzählt die Geschichte einer jungen Mutter, die sich im Moment der Katastrophe schützend über ihr Baby geworfen hatte. Als es in den Trümmern gefunden wurde,schlief es unverletzt unter ihrer Leiche. In seinem Arm wurde ein Handy gefunden, auf dem Display standen die letzten Worte der Mutter: »Kind, wenn du es schaffst, diesem Unglück zu entkommen, dann vergiss nicht: Mama liebt dich.«
Das Kinn des Moderators zittert, eine Welle der Rührung schwappt durch den Saal. »Schicken wir ihr eine SMS zurück!«, verkündet er mit bebender Stimme. »Und wenn sie sie im Himmel erhalten kann, dann wollen wir ihr mitteilen, dass jeder von uns ihr Kind genauso lieben wird wie sie!« Applaus, Musik, ein Meer der Ergriffenheit.
»Ich kann diese Shows nicht leiden«, entfährt es mir.
»Nein?« Der Restaurantbesitzer guckt amüsiert zu mir herüber.
»Sie sind mir einfach zu schleimig.«
»Chinesisches Fernsehen ist meist so.«
»Ja, aber wissen die Leute nicht, dass viele der Menschen in Sichuan nur deshalb gestorben sind, weil ihre Gebäude so schlecht gebaut waren?«
»Natürlich wissen wir das. Bei uns ist es doch genauso.« Er zeigt zum Fenster. »Dort drüben steht die Schule. Wenn hier ein Erdbeben wäre, würde auch sie einstürzen, garantiert.«
»Aber müsst ihr dann nicht kotzen, wenn ihr solche Sendungen seht?«
Er lacht. »Das ist doch nur Fernsehen, weiter nichts!«
»Fernsehen von den gleichen Leuten, die eure Gebäude gebaut haben.«
»Nein, die sitzen in den Lokalregierungen! Egal, was Beijing durchzusetzen versucht, die machen einfach, was sie wollen. Und wenn es nichts mehr zu holen gibt, dann hauen sie ab. Ihre Kinder studieren ja sowieso schon bei euch im Ausland.«
Es ist die gleiche Klage, die ich schon so oft gehört habe. Sie handelt von den guten Absichten der Zentralregierung auf der einen Seite und von den korrupten Parteikadern vor Ort auf der anderen.
DER REGEN
Die Straße steigt an. In Lanzhou war ich tausendfünfhundert Meter über dem Meer, und als ich die Kreisstadt Yongdeng erreiche, bin ich schon bei zweitausend.
Doch das ist noch gar nichts.
Ein paar Tagesmärsche im Norden liegt der Pass von Wushaoling. Über den werde ich hinübermüssen, sagt Herr Liu, und dabei hält er grinsend drei Finger in die Höhe. Sein Gesicht sieht aus wie ein verschrumpeltes
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