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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Rehage
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geben traurige Luftbläschen ab, und ein säuerlicher Geruch liegt in der Luft.
    Soll ich ihr erklären, dass ich Juli aus Spaß einen Fisch angeboten habe, wenn sie endlich meine Freundin werden würde, und dass sie gelacht und gefragt hat, ob sie dafür etwa einen hässlichen Streifenfisch bekommen würde?
    Ich winke ab und tippe eine SMS in mein Handy. Es muss doch noch einen anderen Weg geben.
    Kurz bevor ich den Supermarkt verlasse, komme ich an einer Wand aus Fernsehern vorbei. Dutzende von Menschen sind mitihren Einkäufen davor stehen geblieben und starren auf die flimmernden Bildschirme, die alle das Gleiche zeigen: rauchende Trümmerberge, weinende Gesichter, dazwischen Wörter und Zahlen, die irgendwie verständlich machen sollen, was vorgestern passiert ist. Es ist von mehr als sechzigtausend Erdbebenopfern in Sichuan die Rede, überall werden noch Leichen ausgegraben. Die Fernsehgeräte haben keinen Ton, und es ist so still, dass mir das trockene Rascheln meiner Einkaufstüte sehr laut vorkommt.
    Den Wochentag meines Aufbruchs bemerke ich nur aus Zufall, als mein Blick im Aufzug auf den Teppich fällt: »Freitag«, steht darauf, ein dezenter Hinweis auf den Hygienestandard des Hotels, das jeden Tag den Teppich wechseln lässt. Auch ich bin für meine Verhältnisse gepflegt: Die Schuhe, die kurze Hose und das Hemd sind neu, ich habe frisch geduscht, zwei Wochen ohne Laufen haben ein Gefühl der Trägheit hinterlassen. Als ich aus dem Hotel in den Mai hinaustrete, winken die Rezeptionisten mir fröhlich zu. Sie wissen von meiner Reise, von meinem Bart und von meinem Besuch bei Juli, und sie finden das alles sehr amüsant. »Viel Glück noch mit dem Streifenfisch!«, ruft jemand, und ein freundliches Lachen flattert mir hinterher.
    Der Himmel über Lanzhou ist so blau wie der über Beijing vor mehr als einem halben Jahr. Bei der Zhongshan-Brücke überquere ich den Gelben Fluss zum zweiten Mal. Er ist schmaler als bei Fenglingdu, und er gurgelt geschmeidig unter den Eisenstreben des alten Bauwerks hindurch. Man sieht der Brücke nicht an, dass ihre Teile schon vor hundert Jahren aus dem Deutschen Reich importiert wurden, und noch schwerer fällt es, sich vorzustellen, dass es damals außer ihr keine andere Eisenbrücke über den Gelben Fluss gab. Heute sieht sie verschwindend klein aus vor den anderen Brücken und den Hochhäusern der Stadt, doch das macht nichts, denn die Leute hier mögen sie trotzdem. In einem Kiosk fragt mich der Besitzer nach meiner Herkunft, hebt einen Daumen und grinst. »Deutsche bauen Qualität!«
    Ich folge dem Flussufer durch Parks und Neubauviertel, zwänge mich an einer Moschee vorbei und kürze durch enge Gassen ab, aber meine Schritte sind nicht so leicht, wie ich gehofft habe. Vielleicht bin ich zu lange nicht gelaufen, oder vielleicht liegt es an den neuen Schuhen.
    Dann erwischt mich der Regen. Es ist der Nachmittag des zweiten Tages, und ich bin immer noch in den Vororten der Riesenstadt Lanzhou. Zuerst nimmt der Horizont eine ungesunde Farbe an, dann stürzen sich schwarze Wolken die Berghänge hinunter, und ein scharfer Wind fegt über die Straße. Er wirft mir dicke Tropfen ins Gesicht, und für einen Moment frage ich mich, ob es überhaupt schon einmal richtig geregnet hat, seit ich in Beijing losgegangen bin. Ein Sonnenschirm fliegt über die Straße, eine Frau und ein Junge hasten mit geduckten Köpfen hinterher. Von irgendwo ist ein empörter Donnerschlag zu hören, ich flüchte in einen Imbiss.
    Eigentlich will ich mir nur meine Jacke überziehen, doch dann überlege ich es mir anders und bestelle eine Schüssel Teigtaschen. Sie dampfen verheißungsvoll, während draußen der Regen mit Peitschenschlägen über den Asphalt getrieben wird. Ich habe noch nicht aufgegessen, da klart der Himmel schon wieder auf, und auf magische Weise ist alles wieder so wie vorher. Nur ein paar Pfützen zeugen noch von dem Unwetter.
    Ich bemerke den dicken Jungen mit dem Würgeholz erst, als er direkt vor mir steht. Er beäugt mich einen Moment, dann atmet er tief ein und fragt mit aufgeregter Stimme, was ich hier mache. Ein kleines Mädchen steht neben ihm.
    »Ich suche ein Gasthaus für die Nacht«, antworte ich und zeige auf die Imbissbesitzerin, »aber die Tante hat mir schon gesagt, dass es hier keines gibt.«
    Die Augen des Jungen wandern zwischen mir und der Tante hin und her, und für einen Moment sieht er so aus, als ob er nicht weiß, was er sagen soll. Dann hellt sich sein

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