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The Lost

Titel: The Lost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Ketchum
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kreischend davonflatterte.
    Zu ihrer Überraschung fand sich die Katze auf dem nun leeren Ast wieder. Da ihr nichts anderes übrigblieb, blickte sie dem davonfliegenden Vogel hinterher. Ihr Herz pochte. Sie schnaubte vor Aufregung. Mit großen Augen beobachtete sie den Eichelhäher, bis er zwischen den anderen, kleineren Bäumen in der Ferne verschwunden war. Dann wanderte ihr Blick zu den sie umgebenden Ästen und Blättern und schließlich nach unten.
    Die Ulme war ziemlich hoch, und die Katze hatte nicht darauf geachtet, in welcher Höhe sich der Ast befand, auf dem der Vogel gesessen hatte; sie hatte nur ihre Beute im Auge gehabt und war fest davon überzeugt gewesen, sie dank ihrer geschmeidigen Muskeln zu erreichen und zu erlegen. Bis gerade eben hatte sie nicht bemerkt, dass sie sich so weit oben im Baum befand. War sie beim Hinaufklettern noch voller Zuversicht und Mut gewesen, hatte sie nun beides verlassen, Zuversicht und Mut, die sie zum Abstieg benötigte. Vorsichtig begann sie hinunterzuklettern, doch als sie nach einigen Minuten schließlich den untersten Ast erreichte, kam ihr der Abstand bis zum Boden immer noch schier unüberwindlich vor.
    Sie machte sich lang und drückte die Vorderpfoten gegen den Baumstamm links von sich. Während ihre Krallen sich in die Rinde bohrten, inspizierte sie das unter ihr liegende Terrain. Der Boden war felsig, hart und bedrohlich. Sie drehte sich um und wiederholte das Manöver auf der rechten Seite. Doch das Problem blieb dasselbe. Vorsichtig tastete sie sich auf den Ast hinaus und musterte den Erdboden zu beiden Seiten, bis der Ast zu dünn wurde, unter ihr zu schwanken begann und ein Blätterdickicht ihr den Weg versperrte. Also machte sie kehrt, kletterte zum Stamm zurück und blieb zusammengekauert in der Astgabel sitzen, der rettende Erdboden in unerreichbarer Ferne. Zitternd vor Angst versuchte sie sich darüber klarzuwerden, was sie nun tun sollte.
    Inzwischen hatte die Nachmittagssonne den Morgennebel vertrieben.
    In ihrer Verwirrung und ihrem Schmerz öffnete die Katze das Maul und stieß einen Klagelaut aus. Doch die Welt gab keine Antwort.

34
Tim
    Um drei klingelte das Telefon, und er hörte sofort, dass Ray stinksauer war. Er wolle sein Hasch, sagte Ray, und zwar auf der Stelle. Warum hatte er nicht angerufen? Tim erzählte ihm eine erfundene Geschichte, irgendwas von schlimmen Kopfschmerzen und einer fiebrigen Grippe, und fürs Erste schien das als Erklärung zu genügen.
    Zwanzig Minuten später klingelte Ray an der Tür. Tims Eltern waren mit Ginnie ins Colony in die Frühvorstellung von Hello Dolly ! mit Barbara Streisand gegangen, darum war Tim es, der ihn hereinließ. Hey, Alter, wie geht’s, alles klar? Ray antwortete nicht, und so gingen sie schweigend die Treppe hinauf. In seinem Zimmer ließ Ray sich aufs Bett fallen, und Tim trat an die Kommode, holte das Hasch heraus und warf es ihm zu.
    »Wieg’s ab«, sagte Ray.
    »Hä?«
    »Hol die Waage. Wieg’s ab.«
    »Hab ich schon.«
    »Dann mach’s nochmal.«
    Seine zusammengekniffenen Augen und der ausdruckslose dunkle Tonfall duldeten keine Widerrede. Tim kam es so vor, als wäre eine Schlange in sein Zimmer gekrochen – er musste höllisch aufpassen, wo er hintrat. Er holte die Waage heraus und stellte sie auf den Schreibtisch, in der Hoffnung, diesmal nicht so viel abgeschnitten zu haben, dass Ray es bemerkte. Ray stand auf, packte das Hasch aus, betrachtete es einen Moment lang und legte es auf die Waage. Dann sah er Tim an.
    »Zu wenig. Du hast dir was abgeschnitten, Timmy.«
    »Ich …«
    »Hab ich’s mir doch gedacht.«
    Ray nahm das Hasch von der Waage und fing an, es wie einen Gummiball in die Luft zu werfen, während er im Zimmer auf und ab ging, vom Schreibtisch zum Fenster und zur Tür und wieder zurück, so als würde er über etwas nachdenken und als könnte er sich so besser konzentrieren. Was allerdings komisch war: Er schien wegen der Sache mit dem Hasch kein bisschen sauer zu sein. Das war ziemlich ungewöhnlich für jemanden wie Ray. Trotzdem war Tim immer noch besorgt. Die Schlange hatte sich lediglich in einen Löwen im Käfig verwandelt.
    »Ich hatte heute Morgen seltsamen Besuch, Timmy. Also, echt seltsam, Alter.«
    Er wanderte weiter umher.
    »Ja? Von wem denn?«
    »Von Jennifer.«
    Oh, Scheiße, dachte Tim.
    »Siehst du das hier?«
    Ray trat zu ihm und deutete auf eine winzige Schramme an der Stirn. Danach setzte er seine Wanderung durch das Zimmer fort und begann

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