The Lost
schließlich dem Unausweichlichen gefügt. Ohne jede Würde, was bei dieser Krankheit fast zwangsläufig war. Sie war im Morphiumnebel gestorben, mit wundgelegenem Hintern, trotz Eds Anstrengungen und der Bemühungen der Leute vom Hospiz. Sie hatte mehr als die Hälfte ihres früheren Gewichts verloren, dazu alle Haare, und ihre Haut war grau wie eine Nacktschnecke gewesen. Für niemanden hatte er mehr Liebe empfunden als für sie, und er wusste, dass er nie wieder so lieben würde. Er hatte sie auf die gleiche Art angebetet wie sie ihre Blumen, dachte er. Eine stille, friedvolle Naturgewalt.
Und vielleicht war ja Evelyn der Grund, warum er wieder mit der Gartenarbeit angefangen hatte, und nicht Sally, oder es waren beide. Der Mensch war ein hoch komplexes Wesen, ein wandelnder Flickenteppich; in der Jugend hatte man Träume, Hoffnungen und Ängste, als Erwachsener Sinnkrisen und peinliche Affären, und im Alter folgten Reue, Schmerzen und Verlust, das volle Programm eben, ein einziges Wirrwarr, in dem man sich verfing. Das Leben zerrte und schubste einen in alle möglichen Richtungen, und man tat, was nötig war, um das innere Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Daher kniete er also diesen Sommer im Gras und klopfte mit dem Spatel behutsam die lose Erde fest, die die zarten Triebe umgab, genau so, wie Evelyn es ihm beigebracht hatte, und wischte sich dann am schmutzigen weißen T-Shirt die Hände ab. Nachdem die Katze eine Weile an ihm herumgeschnüffelt hatte, verlor sie das Interesse und tippelte über den Rasen in den Wald hinterm Haus. Er beobachtete, wie ihr schwarzer Schwanz, einer Fahne gleich, wedelnd im Unterholz verschwand.
Er sollte die Katze zu sich holen. Bevor ihr etwas zustieß. Das Leben war eine riskante Angelegenheit. Ein Unwetter konnte sie umbringen. Oder ein Waschbär oder ein Hund.
Doch irgendwie missfiel ihm der Gedanke an ein Haustier. Vielleicht hatte er einfach Angst davor, nach Evelyn noch einmal die Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu übernehmen. Ganz gleich für welches.
Die Sache mit Sally hatte bestimmt nichts mit Verantwortung zu tun, dessen war er sich sicher.
Charlie meckerte hin und wieder über die Affäre, und er konnte nicht mal sauer auf ihn sein oder sich daran stören. Verdammt, Charlie hatte ja Recht. Mit seinen neunundvierzig Jahren konnte er theoretisch Sallys Opa sein; sie war gerade einmal achtzehn. Wäre sie zwei Jahre jünger, würde er sich strafbar machen. Aber wenn sie zusammen waren, dachte er kaum an so was. Sicher, vieles an ihrem Verhalten erinnerte ihn daran, wie jung sie war. Aber das meiste davon genoss er. Er konnte ihr Sachen beibringen. Ihr von früher erzählen. Sie war eine kluge junge Frau und ein guter Zuhörer, und außerdem hatte sie immer ein, zwei schlaue Fragen auf Lager.
Und sie erinnerte ihn nie an sein Alter. Im Gegenteil.
Wenn er morgens in den Spiegel schaute, sah er die kleine Wampe, die er trotz seines täglichen Trainings angesetzt hatte, und die zusätzlichen Pfunde an den kräftigen breiten Schultern und das ergraute Haar. Er war ja nicht blind. Aber er spürte die Last der Jahre längst nicht so deutlich wie viele andere Männer in seinem Alter. Er war immer bei bester Gesundheit gewesen. Krankenhäuser kannte er nur als Besucher. Trotz der Tatsache, dass er manchmal zu viel trank und generell zu viel rauchte. Entweder es lag an seinen Genen, oder er hatte bisher einfach Glück gehabt.
Der Duft ihrer Haare, eine Berührung ihrer zarten Hände, und er spürte, wie die Jahre von ihm abfielen. Manchmal fühlte er sich dann fast wieder wie ein Jungspund.
Schilling nannte es Midlife-Crisis. Ihm selbst kam es nicht im Geringsten wie eine Krise vor. Nach all den Jahren der Hilflosigkeit und Trauer und Wut über Evelyns Krebs kam Sally ihm wie ein Geschenk des Himmels vor. Und er hatte sich vorgenommen, nicht zu viel über ihre Beziehung nachzudenken oder sich wegen des Altersunterschieds den Kopf zu zermartern. Und sich auch über Sallys Eltern nicht allzu viele Gedanken zu machen, obwohl der Vater einigen Einfluss in Sparta besaß und bekanntermaßen zum Jähzorn neigte. Er hatte sich vorgenommen, glücklich zu sein. Nur das. Der ganze Rest kümmerte ihn nicht.
Apropos glücklich sein.
Es war vier Uhr – und damit an der Zeit, alles zusammenzupacken und zu Panik’s Bar and Grille hinüberzugehen. Mit den Veilchen war er sowieso fast fertig.
Er klopfte die Erde um die letzten frisch gepflanzten Blumen fest und begoss sie
Weitere Kostenlose Bücher