The Lost
Vergiss doch einfach diese Sally. Lass uns ausgehen und Spaß haben. Lass mich Tim und Phil anrufen und ihnen sagen, du hättest deine Meinung geändert. In Ordnung? Bitte.«
Sie bettelte ihn an. Falls man betteln und gleichzeitig brüllen konnte, dann hatte sie es soeben getan.
Der Klang ihrer Stimme widerte sie an.
»Warum soll ich zulassen, dass du sie anrufst und sagst, ich hätte meine Meinung geändert, Jennifer? Ich hab meine Meinung nicht geändert. Scheiß auf Jim Brown und Raquel Welch. Ich hab keinen Bock. Punkt. Und das hat nichts mit Sally zu tun.«
»Ach nein?«
»Nein.«
»Ray, so bist du nur drauf, wenn du etwas haben willst, was du nicht kriegst. Und wenn es nicht diese komische Sally ist, was ist es dann?«
»Lass mich in Ruhe, verdammt nochmal.«
Sie trat an den Plattenspieler und schaltete ihn aus.
Er starrte sie an, als wäre sie verrückt geworden. Er ist es wohl nicht gewohnt, dass ich eine eigene Meinung habe, dachte sie.
»Was zum Henker tust du da? Ich steh auf die Mucke.«
»Ich will raus hier, Ray. Irgendwohin. Ich will ins Kino. Können wir bitte ins Kino gehen? Ich will nicht den ganzen Abend in deinem Apartment rumhocken!«
»Du willst raus?«
»Ja.«
»Stimmt etwas nicht mit diesem Apartment?«
»Nein.«
»Stimmt etwas nicht mit diesem Apartment?«
»Nein. Ich hab nicht gesagt, dass mit diesem Apartment etwas nicht stimmt.«
»Was zum Henker willst du dann damit sagen?«
»Ich hab doch bloß …«
Er leerte die Bierflasche und ging rüber zur Spüle. Sie war froh, dass er nicht in ihrer Nähe stand; wenn er mies drauf war, wusste man nie, was er als Nächstes tat. Er drückte den Joint aus und legte ihn vorsichtig auf den Aschenbecherrand.
»Was stimmt nicht mit dem Apartment, Jennifer? Gefällt dir die Farbe nicht? Soll ich es für dich neu streichen? Hast du ein Problem mit der Einrichtung? Soll ich mir neue Möbel anschaffen?«
»Bitte, Ray. Ich hab bloß …«
»Ich will ich will ich will.«
»Wie?«
»Ich will ich will ich will. Du willst raus aus dem Apartment? Dann verpiss dich doch einfach.«
»Komm schon, Ray. Ich möchte mir bloß den Film anschauen.«
»Der Film spielt sich hier ab, Jen. Ich bin der Film. Das hier ist das Kino! Kapierst du das nicht?«
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Er zerschlug die Bierflasche am Rand der Spüle und ging mit dem abgebrochenen Flaschenhals in der Hand auf sie los. Sie wich zur Tür zurück. Eigentlich glaubte sie nicht, dass er sie angreifen würde, trotzdem hatte sie Angst, und zwar aus gutem Grund, denn wenn er derart ausflippte, konnte man nie wissen, was als Nächstes passierte. Alles ging rasend schnell. Er packte sie am Haar, zerrte ihren Kopf zur Tür zurück und drückte ihr den Flaschenhals an die Wange. Sie roch das schale, säuerliche Bier.
Ihre Wange war feucht, aber das war nur das Bier. Er hatte sie nicht verletzt.
Er ließ ihr Haar los und griff in die Hosentasche.
Er zog die Schlüssel heraus und drückte sie ihr in die Hand, dann nahm er den Flaschenhals herunter.
»Hier. Nimm den verdammten Wagen. Ruf deine bekloppten Freunde an. Und jetzt zieh Leine.«
»Ray, ich …«
»Wenn die Karre auch nur den kleinsten Kratzer abbekommt, passiert was, kapiert? Dann bist du dran.«
Sie nickte, wollte ihm sagen, dass es ihr leidtat. Aber das war sinnlos. Es war jetzt besser, die Klappe zu halten und einfach zu gehen. Wenigstens würde sie sich den Film anschauen.
»Ich … ähm … ich brauch ein bisschen Kohle.«
Sie hasste es, ihn nach Geld zu fragen. Jedes Mal. Aber als Schulabbrecherin ohne spezielle Fähigkeiten wie Maschineschreiben oder so war man in dieser Stadt praktisch unvermittelbar und kriegte, wenn überhaupt, nur die beschissensten und schlecht bezahltesten Jobs. Sie verdiente ein bisschen, indem sie Dope für ihn verkaufte – ihr Anteil belief sich auf zehn Prozent –, aber sie hätte wenigstens wie Tim die Schule zu Ende bringen sollen.
Doch nach der Sache mit den beiden Mädchen im Wald hatte sie es auf der Schule nicht mehr ausgehalten. Sie hatte sich wie auf dem Präsentierteller gefühlt. Jedes Mal, wenn ein Mitschüler sie auf dem Gang auch nur anschaute, hatte sie gedacht: Er weiß es. Irgendwie hat er es herausgefunden. Jemand hat es ihm verraten. Sie fühlte sich, als läge ihre Seele offen und jedermann könnte in ihr Inneres blicken und erkennen, welch grausame Wahrheit sich dort verbarg.
»Klar brauchst du Kohle, logisch«, sagte er.
Er zog seine
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