The Lost
länger und hartnäckiger setzte es sich fest.
Sie ist praktisch katatonisch, hatte er gesagt.
Katherine sah ihre Mutter förmlich vor sich, wie sie zusammengekauert in der Ecke eines kahlen weißen Zimmers hockte, dünn und ausgemergelt, die Haare zerzaust und wahrscheinlich fettig. Ob man sie in eine Zwangsjacke gesteckt hatte? Nein. Die gab es nur für gewalttätige Patienten, nicht für Katatoniker. Sie fragte sich, ob ihre Mutter noch ihre eigene Kleidung tragen durfte oder ob sie inzwischen zum erlauchten Kreis derer gehörte, die einen hinten offenen Krankenkittel trugen, so dass man Wirbelsäule und Pospalte sehen konnte.
Sie sollte so etwas nicht denken.
Sie ließ sich ein heißes Bad ein, legte sich eine Weile ins Wasser und trank währenddessen einen dritten Rémy. Ihr Vater würde es nicht merken. Er trank so selten, dass er gar nicht wusste, was in der Hausbar war, ganz zu schweigen davon, wie viel sich in den einzelnen Flaschen befand. Er hatte den Alkohol nur für gelegentliche Klientenbesuche im Haus. Anschließend wanderte die Flasche wieder in die Bar und blieb dort.
Nach dem Bad duschte sie und rubbelte sich das Haar trocken, schlang sich ein Handtuch um den Leib und trottete in ihr Zimmer. Dort hockte sie sich vor den Schminktisch und den Spiegel, die beide mal ihrer Mutter gehört hatten. Es kam ihr immer noch wie ein Wunder vor, dass ihre Mutter den Spiegel nicht eingeschlagen hatte, denn im Laufe der Jahre hatte sie unzählige Gegenstände im Haus zertrümmert. Katherine hatte Tisch und Spiegel am selben Tag in Besitz genommen, als man ihre Mutter in die Anstalt eingewiesen hatte. Sie hatte ihn ganz alleine in ihr Zimmer geschleppt. Zunächst war ihr Vater ziemlich entsetzt gewesen. Hättest du damit nicht ein bisschen warten können?
Nein. Sie hatte nicht warten können. Es stand ihr zu, sich den verdammten Schminktisch zu nehmen, nachdem diese Frau ihnen jahrelang das Leben zur Hölle gemacht hatte. Sie hatte ihn sich sauer verdient.
Nach einer Weile war ihr Vater davon überzeugt, dass dies eben ihre Art war, sich an ihre Mutter in besseren Zeiten zu erinnern und ihr Andenken zu ehren, und so hatte er ihr Verhalten schließlich akzeptiert. Aber damit lag er komplett falsch, dennoch ließ sie ihn in dem Glauben. Praktisch jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaute, sagte sie sich: Zur Hölle mit dir, Mama, ich habe dich überlebt. Sie sagte es mit einem grimmigen Lächeln im Gesicht, als würde ihre Mutter irgendwo dort im Spiegel stecken, als wäre sie darin gefangen und könnte zu ihr in die Freiheit hinausblicken und ihre Gedanken lesen. Nein, es hatte nichts mit nostalgischen Gefühlen zu tun.
Im Gegenteil.
Sie bürstete ihre Haare, legte Make-up auf und zog sich an – eins der gestärkten weißen Brooks-Brothers-Hemden ihres Vaters, eine neue enge Jeans und weiße Turnschuhe. Keinen Gürtel. Ganz schlicht. Wahrscheinlich erwartete Ray etwas Ausgefalleneres, und sie wollte dieser Erwartung nicht entsprechen. Das tat sie immer, wenn sie mit einem Mann verabredet war. Es war eine ganz simple Strategie. Besonders am Anfang musste man die Kerle überraschen. Es zahlte sich immer aus. Sie legte die silberne Halskette an, die ihr Vater ihr zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte, und dann war sie fertig.
Durchs Fenster konnte sie sehen, wie sein Wagen in die Einfahrt bog. Er hupte einmal. Kurz und höflich. Ganz sachte.
Sie hockte sich aufs Bett, schlug die Cosmo auf und begann zu lesen.
Es wäre unklug, sofort aus dem Haus zu stürmen.
»Wieso läufst du so komisch, Ray? Falls ich fragen darf?«
»Kein Problem. Ich hab mir als Kind mal die Beine gebrochen. Mit neun oder zehn. Irgendwo wurde gerade ein Haus gebaut, und ich bin mit ein paar Freunden im Gebälk rumgeklettert. Da waren nur die nackten Balken und das Dach. Wir sind wie die Seiltänzer hin und her balanciert, und plötzlich hat dieser Kerl, dieses Arschloch, mich runtergeschubst. Ich bin zehn Meter in die Tiefe gestürzt und hab mir die Beine gebrochen. Zwei Wochen Krankenhaus, Doppelbruch in beiden Beinen. Dann haben die blöden Ärzte mir zu früh den Gips abgenommen, darum sind die Knochen nicht sauber zusammengewachsen. In dem Jahr war ich der beste Turner der Schule. Aber damit war’s dann vorbei.«
Die Geschichte über den Drogendealer, der ihn angeschossen hatte, wollte er lieber nicht bringen.
Er wollte sie nicht erschrecken.
Jedenfalls genoss er jetzt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Er fuhr mit
Weitere Kostenlose Bücher