The Lost
herumzuturnen. Der Baum hatte jede Menge Stellen, an denen man sich festhalten konnte und Halt für die Füße fand. Es war fast wie auf einer Leiter. Er kam schnell voran, und schon bald stand er auf dem Ast, der vom Stamm zum Dach hinüberführte. Er klopfte sich den Schmutz von den Händen. Das Dach war nicht allzu schräg, und der Schornstein lag direkt vor ihm. Er würde sich daran festhalten und von dort zum dunklen Giebelfenster vorarbeiten – offensichtlich das Schlafzimmer des Vaters – und dann das letzte Stück über die Dachschindeln zum zweiten, dem erleuchteten Fenster weiterklettern.
Leichter gesagt als getan.
Zum Schornstein zu gelangen war kein Problem, doch als er zum ersten Giebel rüberbalancierte, wäre er fast abgerutscht. Seine Stiefel waren für die Schindeln denkbar ungeeignet. Und um das zweite – ihr – Fenster zu erreichen, musste er sich auf den Bauch legen und Zentimeter für Zentimeter seitwärts robben; er schwitzte und grunzte wie ein Schwein und hoffte, dass die Schindeln hielten, denn sonst würde er abrutschen und vom Dach stürzen. Er fragte sich, wie er nur auf so eine bescheuerte Idee gekommen war. Er konnte nur beten, dass Katherine ihn nicht hörte und ans Fenster kam, denn er würde ein ziemlich armseliges Bild abgeben. Schließlich aber erreichte er auch den zweiten Giebel, stützte sich daran ab und verschnaufte einen Moment. Seine Handflächen und Finger waren wund, die Knie unter der Jeans aufgeschürft, und wahrscheinlich hatte er sich von Kopf bis Fuß eingesaut.
Was für eine Balkonszene. Ein toller Romeo war er.
Aber es würde eine Riesenüberraschung werden.
Er ging in die Hocke, und mit dem Rücken gegen den Giebel gelehnt klopfte er sich, so gut es ging, den Schmutz von Hemd und Hose. Zum Glück war er wieder ganz in Schwarz gekleidet, daher fielen die Flecken kaum auf. Er fuhr sich durchs Haar, dann drehte er sich um und spähte durch das Fenster.
Katherine war nicht da. Auf dem Schminktisch und neben dem Bett brannte jeweils eine Lampe. Die Badezimmertür stand offen, doch er konnte nur die Toilette und den Waschbeckenrand erkennen. Vielleicht war sie im Bad, vielleicht aber auch unten. Er konnte das Summen der Klimaanlage im Zimmer hören.
Sein Herz klopfte jetzt noch heftiger als während seiner Kletterpartie über das Dach. Er überlegte, was er tun sollte. Er könnte versuchen, das Fenster zu öffnen und ins Zimmer zu steigen. Er könnte warten, bis sie zurückkehrte, und an die Scheibe klopfen. Dann fiel ihm ein, dass sie vielleicht schon nach unten gegangen war, um dort auf ihn zu warten, und womöglich nicht mehr hochkommen würde. Was, wenn sie das Licht einfach hatte brennen lassen? Ihr Vater hatte Geld wie Heu. Wegen des Stroms musste sie sich also keine Gedanken machen. Das hatte er nicht bedacht, und es war echt dämlich von ihm, dass ihm das jetzt erst einfiel. Nicht nur weil die ganze Plackerei dann umsonst gewesen wäre, nein, er müsste sich auch überlegen, wie er, ohne sich den Hals zu brechen, wieder nach unten kam.
Probier’s mit dem Fenster.
Es ließ sich tatsächlich öffnen. Das machte die Sache um einiges leichter.
Er war froh, dass er sich jetzt in Sicherheit bringen konnte. Denn es bestand immer noch die Gefahr, dass er von seinem Aussichtspunkt stürzte und sich sämtliche Knochen brach.
Er schob das Fenster ganz nach oben, packte die Innenseite des Holzrahmens und schwang sich ins Zimmer. Es roch nach ihrem Parfüm. Das Bett war gemacht, die Kissen aufgeschüttelt. Was für ein ordentliches Mädchen. Auf dem Schminktisch war etwas Puder verstreut, und das John-Lennon-Poster darüber – das mit der Oma-Brille, wie bei Timmy – hatte oben links einen kleinen Riss. Sonst war alles genau an seinem Platz.
Er hatte nicht gedacht, dass Katherine so ordentlich war.
Lächelnd setzte er sich aufs Bett, denn dies würde ein Riesenspaß werden, und da kam sie auch schon aus dem Badezimmer marschiert, ein Handtuch um den Kopf, ein zweites um den Körper geschlungen. Erschreckt wich sie zurück und stieß einen Schrei aus, als wäre sie von einem Zug erfasst worden.
»Was zum Henker … Ray ?«
»Hallo. Hab ich dich überrascht?«
»Das … das kann man wohl sagen. Ich fass es nicht!«
»Du meintest doch, ich soll dich überraschen.«
»Aber doch nicht fast zu Tode erschrecken. Wie bist du überhaupt hier reingekommen, verdammt nochmal?«
Er deutete auf das offene Fenster.
»Ich bin eingestiegen.«
»Blödsinn. Ich hab
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