The Lost
vorbeischauen und einen Blick auf einen der Küchenschränke werfen könne. Das blöde Ding hing schon ganz schief, und die Tür fiel wohl bald aus den Angeln. Das stimmte sogar, es war ihm am Morgen bei seiner Putzorgie aufgefallen. Aber vor allem fühlte er sich schuldig, weil er sich für Lenny problemlos nach Arbeit hätte umhören können; außerdem erfüllte es ihn mit Unbehagen, wenn er daran dachte, was er mit Lennys Sohn vorhatte.
Ihr Fernseher war ein Schwarz-Weiß-Gerät von Zenith. Es liefen gerade die Abendnachrichten. Das Wohnzimmer war mit uralten Sears-Möbeln eingerichtet, aber dank Clara war alles ordentlich und sauber. Sie stand in der Küche und spülte Geschirr; wegen des laufenden Wassers und des Fernsehers hatte sie ihn noch nicht bemerkt. Lenny deutete auf einen der Sessel und wollte den Apparat ausschalten, doch Schilling meinte, er solle ihn ruhig anlassen.
»Eigentlich bin ich hier, um mit Tim zu sprechen, Lenny.«
Er sah, wie sich die Miene des Mannes verfinsterte.
»Hat er was ausgefressen?«
»Nein. Nicht dass ich wüsste. Ich möchte ihm nur ein paar Fragen stellen. Ist er da?«
»Oben in seinem Zimmer.«
»Könntest du ihn runterrufen?«
»Er hat bestimmt seinen Fernseher an. Ich geh ihn holen.«
Schilling fragte sich, ob Tims Apparat ein Farbgerät war.
Er beobachtete, wie Lenny die Treppe hinaufstieg, und ihm wurde bewusst, was für einen seltsam geformten Körper er hatte: dicke lange Arme, krumme Beine, hängende Schultern. Vielleicht war er durch seine Arbeit so deformiert. In den Nachrichten lief gerade ein Bericht über die Festnahme von sechsundzwanzig Verdächtigen in Los Angeles, die beschuldigt wurden, einem Ring von Autodieben anzugehören; die Festnahme war auf der Spahn Ranch erfolgt, einem ehemaligen Drehort für Hollywood-Filme außerhalb der Stadt. Der Ranchbesitzer, ein achtzigjähriger blinder Mann, erklärte, er hätte zwar gewusst, dass auf seinem Land Leute lebten, allerdings nicht, wie viele, und von irgendwelchen kriminellen Aktivitäten habe er auch nichts gewusst. Angeblich hatten die Verdächtigen reihenweise VW-Käfer gestohlen und zu Wüstenbuggys umgebaut. Außerdem hatte man dort ein umfangreiches Waffenarsenal entdeckt.
Als Nächstes folgte ein Bericht über das Woodstock-Festival, das Schilling wie ein Alptraum aus Schlamm, Verkehrschaos und unzureichenden Sanitäreinrichtungen vorkam. Dann kam Lenny mit seinem Sohn die Treppe hinunter. Tim war barfuß und trug eine Jeans und ein rotes T-Shirt. Er war ein bisschen blass um die Nase und schien überrascht, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Die beiden setzten sich ihm gegenüber aufs Sofa.
»Es gibt doch keine Probleme, oder?«, fragte Lenny mit einem gezwungenen Lächeln.
»Nein. Keine Sorge. Wie geht’s dir, Tim?«
Der Junge zuckte mit den Schultern und antwortete, den Blick auf den Boden gerichtet: »Gut.«
»Arbeitest du für deinen Dad?«
»Manchmal. Wenn er Hilfe braucht.«
Schilling hörte, wie in der Küche das Wasser abgedreht wurde. Gleich würde Clara reinkommen. Das wollte er nicht. Es würde die Sache nur noch komplizierter machen.
»Lenny, darf ich dich um einen großen Gefallen bitten?«
»Sicher.«
»Dürfte ich mit Tim ein paar Minuten alleine sprechen? Es dauert nicht lange, versprochen.«
Bess behagte die Vorstellung nicht, man sah es ihm an. Er lehnte sich zurück und breitete seine großen vernarbten Hände aus.
»Weiß nicht, Charlie. Worum geht’s denn überhaupt?«
»Bitte, vertrau mir. Tim fällt es schwerer, offen zu reden, wenn seine Eltern dabeisitzen. Das ist doch verständlich, oder? Aus seiner Sicht.«
»Ja, schätze schon.« Bess zögerte. »Aber trotzdem, ich bin sein Vater. Bist du sicher, dass er nicht in Schwierigkeiten steckt? Denn falls ja, dann …«
»Ganz sicher. Du hast mein Wort. Es geht um jemand, den Tim kennt, nicht um ihn.«
Bess begriff. »Ray Pye. Wie beim letzten Mal. Stimmt’s?«
Schilling sah ihn nur an. »Können wir bitte ein paar Minuten alleine sein, Len?«
»In Ordnung.«
Er stand auf und ging in die Küche, und Schilling hörte, wie er dort mit seiner Frau leise ein paar Worte wechselte; Claras Stimme klang besorgt, und Lenny versuchte, sie zu beruhigen. Tim starrte immer noch zu Boden, spielte mit einem Gummiband. Ein Abbild jugendlicher Gleichgültigkeit. Was nichts anderes bedeutete, als dass er schrecklich nervös war.
»Erzähl mir von Jennifer Fitch, Tim.«
Der Junge hatte damit gerechnet,
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