The Sign Bd. 1 Nur zu deiner Sicherheit
meine Knie weich waren wie Gummi, holte ich einmal tief Luft und ging über die raschelnden Blätter auf den jammernden Haufen zerfetzter Kleider zu.
»Alles in Ordnung?«
Doch als Antwort erhielt ich nichts als ein Grunzen.
»Hey, kann ich etwas für Sie tun?«
Der Mann rollte sich auf den Rücken und stöhnte.
»Verdammt.« Er spuckte ein wenig Blut aus und berührte die klaffende Wunde an seiner Lippe. »Wie blöd bin ich eigentlich.«
»Keine Ahnung.« Ich starrte ihn an. Er sah fast so übel aus wie Ginnie nach einer von Eds Gewaltattacken. »Sieht mir eher so aus, als wären Sie verletzt und nicht dumm.«
Ich war überrascht – das Gesicht, das sich mir jetzt zuwandte, war nicht das eines Mannes und es war auch nicht alt. Er war ein Junge in meinem Alter. »Die Frage war rein rhetorisch«, schnauzte er mich an und wischte sich dabei mit seinem verdreckten Ärmel über die Lippe.
»Hier.« Ich bot ihm eine zerknüllte Serviette an, die ich in meiner Tasche fand. Seinen angriffslustigen Ton ignorierte ich geflissentlich.
Er presste das Papier auf die Wunde und blinzelte grob in meine Richtung. »Hast du denn gar keine Angst, dich mit mir zu unterhalten?«
»Nein.« Das stimmte natürlich nicht so ganz. Ich hatte in Wirklichkeit sogar schreckliche Angst. »Bist du obdachlos?«
Er richtete sich auf und hielt sich den Bauch. »Mann, das tut echt verdammt weh«, murmelte er, nicht direkt an mich gewandt, weshalb ich auch nichts erwiderte. Noch einmal sah er hoch zu mir, wobei er seine Augen mit der Hand abschirmte. »Macht es denn einen Unterschied, ob ich obdachlos bin oder nicht?«
»Na ja … äh … ich, äh …«
Ich kam nicht gegen den Drang an, ihm zu helfen. Mir schien es fast so, als ob ich mit zunehmendem Alter immer mehr zu der Überzeugung kam, dass jeder, obdachlos oder nicht, das Recht hatte, wie ein Mensch behandelt zu werden. Mir war klar, dass ich das dem Einfluss meiner Mom zu verdanken hatte. Sie wiederholte ständig, dass jeder ein Recht hatte, zu leben. Nur weil die Obdachlosen aufgrund der erwarteten Gegenleistungen von der Regierung keine Almosen annahmen, hieß das doch noch lange nicht, dass sie nicht auch Menschen waren.
Dieser Junge wirkte so verletzlich und ich konnte nicht anders, ich musste an Ginnie denken, wenn sie wieder mal mit Ed aneinandergeraten war. Seit zehn Jahren schaute ich dem Ganzen nun schon zu – ich half ihr hinterher immer aufzuräumen, aber sie sah jedes Mal so schlimm aus, dass ich heulen musste, und das wiederum verstörte dann meine kleine Schwester Dee. Ich hatte in meinem Leben so oft Tränen hinunterschlucken müssen, dass ich schon einen ganzen See an Traurigkeit in mir trug.
»Nun, was ist?« Seine Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. »Hast du ein Problem damit?«
»Nein.«
»Klar, sicher, kleine Vorstadtlady.« Er musterte mich von oben bis unten, aber nicht so lüstern, wie Schweinsauge das getan hatte. »Da wett ich doch drauf.«
Mir fiel die Kinnlade runter. Als würde ich jemanden belügen, für den ich soeben mein Leben riskiert hatte. Und dieser Seitenhieb in Sachen Vorort? Konnte ich denn was dafür, dass wir aus unserem Rang-fünf-Apartment in der Stadt umziehen mussten in eine Rang-zwei-Bleibe in Cementville? Jeglicher Drang, ihm zu helfen, war wie weggefegt, davongetragen wie ein Haufen Herbstlaub im Wind.
»Sieht ganz so aus, als wärst du in Ordnung.« Ich schritt im Halbkreis um ihn herum. »Die Serviette kannst du behalten.«
Ein winziger Teil von mir hätte ihm jetzt gern ebenfalls einen Tritt verpasst, nicht weil er obdachlos war, sondern weil er ein voreingenommenes Arschloch war.
»Hey«, rief er mir hinterher. »Tut mir leid. Ich bin sonst nicht so … na ja … die Umstände, du verstehst?«
Das ließ mich dann doch stehen bleiben. Ja, ich verstand ihn nur zu gut. Ginnie ließ es auch oft an mir aus, wenn sie wieder einmal durchgeprügelt nach Hause kam. Zwar griff sie mich nie physisch an, aber sie warf mir dann immer recht fiese Sachen an den Kopf. Irgendwie musste sie wohl ihren Schmerz teilen, deshalb ließ ich es mir auch gefallen und nahm ihr ein bisschen was ab davon. Ich würde alles für sie tun, ganz gleich, wie weh es auch tat. Ich drehte mich zu ihm um.
Dann setzte ich mich ihm gegenüber auf den Boden. »Wo wohnst du denn? Soll ich jemandem Bescheid geben?« Ich zog meinen PAV -Empfänger aus der Tasche. »Brauchst du …«
»Ich bin kein Obdachloser. Ich wohn gleich da drüben.« Er deutete
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