The Stand. Das letze Gefecht
schlimm?«
»Nein. Nein, das ist es nicht. Aber Lucy...«
»Aber das glaubst du ja nicht«, sagte sie verächtlich. »Du läufst weiter Miss Rührmichnichtan nach, denn du hast ja Lucy, die du nach Sonnenuntergang flachlegen kannst.«
Er saß schweigend da und nickte. Es stimmte, jedes Wort. Er war zu müde, zu geschlagen, um zu widersprechen. Das schien sie zu merken; ihr Gesicht entspannte sich wieder, und sie legte eine Hand auf seinen Arm.
»Wenn du sie erwischst, Larry, bin ich die erste, die mit Blumen kommt. Ich habe noch nie im Leben gegen jemanden Groll gehegt. Nur... versuch, nicht allzu enttäuscht zu sein.«
»Lucy...«
Ihre Stimme schwoll plötzlich an, rauh und mit unerwarteter Schärfe; einen Moment bekam Larry eine Gänsehaut. »Ich glaube nun einmal, daß Liebe sehr wichtig ist; nur Liebe kann uns helfen, dies alles zu überstehen, und gutes Einvernehmen, denn gegen uns steht Haß, schlimmer noch, Leere.« Ihre Stimme wurde wieder leiser. »Du hast recht. Es ist spät. Ich geh' wieder schlafen. Kommst du mit?«
»Ja«, sagte er, und als sie aufstanden, nahm er sie ohne Berechnung in die Arme und küßte sie fest. »Ich liebe dich, so sehr ich kann, Lucy.«
»Das weiß ich«, sagte sie und lächelte ihn müde an. »Das weiß ich, Larry.«
Diesmal wehrte sie sich nicht, als er den Arm um sie legte. Sie gingen gemeinsam ins Lager zurück, liebten sich zaghaft und schliefen ein.
Zwanzig Minuten nachdem Larry Underwood und Lucy Swann ins Lager zurückgekommen waren und zehn Minuten nach ihrem zögernden Liebesakt, als sie schon wieder schliefen, wachte Nadine wie eine Katze im Dunkeln auf.
Der schrille Ton des Entsetzens erklang in ihren Adern.
Jemand will mich , dachte sie und lauschte ihrem Herzschlag, der sich langsam normalisierte. Ihre Augen, weit aufgerissen und voll Dunkelheit, starrten nach oben, wo die überhängenden Zweige einer Ulme Schatten an den Himmel zeichneten. So ist es. jemand will mich. Es stimmt.
Aber... es ist so kalt.
Ihre Eltern und ihr Bruder waren bei einem Autounfall umgekommen, als sie sechs Jahre alt war; sie war an jenem Tag nicht mitgefahren, Onkel und Tante besuchen, sondern zu Hause geblieben, um mit ihrer Freundin zu spielen. Sie hatten ihren Bruder sowieso lieber gehabt, das wußte sie noch. Der Bruder war nicht so wie sie gewesen, kein kleiner Wechselbalg, den sie im Alter von viereinhalb Monaten aus der Krippe eines Waisenhauses gestohlen hatten. Bruders Herkunft war klar. Bruder war - Fanfaren, bitte - ihr Eigenes . Aber Nadine hatte immer und ewig nur Nadine gehört. Sie war das Kind der Erde.
Nach dem Unfall zog sie zu Tante und Onkel, weil sie die einzigen Verwandten waren. In die White Mountains im Osten von New Hampshire. Sie konnte sich noch erinnern, wie die beiden an ihrem achten Geburtstag mit ihr in der Zahnradbahn auf den Mount Washington fuhren, sie in der Höhenluft Nasenbluten bekam und sie böse mit ihr gewesen waren. Tante und Onkel waren zu alt, sie waren Mitte Fünfzig gewesen, als sie sechzehn wurde, in dem Jahr, als sie unter dem Mond durch das taufeuchte Gras gerannt war - die Nacht des Weins, als Träume aus der dünnen Luft kondensierten wie die nächtliche Milch der Phantasie. Eine Liebesnacht. Und wenn der Junge sie eingeholt hätte, wäre sie bereit gewesen, ihm den Preis zu geben, den sie zu geben hatte, und was machte es schon aus, ob er sie einholte? Sie waren gerannt, war das nicht das wichtigste? Aber er hatte sie nicht eingeholt. Eine Wolke hate sich vor den Mond geschoben. Der Tau fühlte sich naßkalt, unangenehm und beängstigend an. Der Geschmack des Weins in ihrem Mund war sauer geworden. Eine Art Verwandlung hatte stattgefunden, ein Gefühl, daß sie warten sollte, warten mußte .
Und wo war er damals gewesen, ihr vorbestimmter, ihr dunkler Bräutigam? Auf welchen Straßen, welchen Gassen in der Dunkelheit der Vorstadt draußen, während drinnen das spröde Klirren des Cocktailgeplauders die Welt in hübsche, rationale Sektionen einteilte? Welche kalten Winde trieben ihn? Wie viele Stangen Dynamit waren in seinem abgewetzten Rucksack? Wer wußte, wie sein Name lautete, als sie sechzehn war? Wie uralt er war? Wo seine Heimat lag? Welche Mutter ihn an die Brust gedrückt hatte? Sie wußte nur, daß er eine Waise war, genau wie sie, und seine Zeit noch kommen würde. Er ging größtenteils auf Straßen, die noch nicht gebaut waren, während sie nur einen Fuß auf eben diesen Straßen hatte. Die Kreuzung, an der
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