The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)
ein dritter wurde verletzt. Einer der beiden Getöteten, ein Sergeant, war Katholik gewesen. Zwei Tage vor dem Marsch berichtete das „Derry Journal“ auf den ersten Seiten: „Armee berichtet von Verstärkung vor dem Bürgerrechtsmarsch.“ Der Bericht besagte unter anderem:
Nach mehreren Berichten über massive militärische Verstärkung im Großraum Derry und Berichten, dass die britische Armee entschlossen sei, einen Bruch des Versammlungsverbots mit noch drastischeren Mitteln denen, die die Demonstranten in Magilligan erleben mussten, zu verhindern, hat die Bürgerrechtbewegung gestern Abend an alle, die sich an dem Marsch beteiligen wollen, einen Aufruf erlassen, Disziplin zu wahren und jegliche Verletzung des Friedens allein der britischen Armee zu überlassen.
Zu dem Demonstrationsmarsch ging ich zusammen mit Eamonn, einem Sohn des Vorsitzenden der Nationalistischen Partei, mit dem ich mich trotz seiner bescheuerten pazifistischen Überzeugung gern anfreunden wollte. Die Demonstranten waren ungeheuer zahlreich, und der Marsch nahm seinen zähflüssigen Verlauf von der Grünanlage Bishop’s Field in Creggan durch die William Street, wo die britische Armee Barrikaden aufgestellt hatte, die die Bürgerrechtsmarschierer daran hindern sollten, das Zentrum ihrer eigenen Stadt zu erreichen. Solche Barrikaden wurden immer von einem Tag auf den anderen aufgebaut und genauso oft auch wieder abgebaut. Jedenfalls sollte der Marsch als nächstes die Straßenecke erreichen, die als Free Derry Corner bekannt ist, wo dann Parlamentsabgeordnete aus Westminster und der Labour-Parteiführer Lord Fenner Brockway zu der Menge sprechen sollten.
Eamonn und ich schlenderten ziemlich weit hinten im Protestzug mit, als unsere Gruppe die stacheldrahtbewehrten Barrikaden erreichte, wo britische Soldaten des Fallschirmjägerregiments uns bereits mit Gasmasken vor dem Gesicht und Gewehren in den Händen gegenüberstanden. Es war allgemein so, dass man bis zur Barrikade marschierte und sich dann zur Seite in die Richtung der Redner weiterbewegte. Die Jüngeren fanden Spaß daran, bei den Barrikaden zu bleiben und die Soldaten laut rufend zu fragen, wieso die Bürger von Derry nicht frei waren, in ihre Stadtmitte zu marschieren, aber das war alles nichts Besonderes.
Als Eamonn und ich an der Stacheldrahtabsperrung ankamen, bemerkte ich, wie rechts von mir ein großer, stämmiger Kerl, der sich ein Taschentuch vor das Gesicht gebunden hatte, etwas hervorzog, was offenbar eine CS-Gasgranate (ein länglicher Gummibehälter mit einer daran befestigten Zündvorrichtung) war. Er schleuderte sie über die Stacheldrahtbarriere hinweg auf die Soldaten zu, wo sie weiße Gaswolken verströmte. Da die Fallschirmjäger ja alle Gasmasken trugen, fand ich das unmöglich, aber meine allererste Reaktion war genau dieselbe wie die aller anderen – nichts wie weg hier, bevor einen das Gas erwischt. Wir drängten alle zurück und begannen die William Street hinaufzulaufen bis zur Rossville Street. Rennen war völlig unmöglich, da das Gedränge viel zu dicht war.
Als wir die Einmündung der Rossville Street und damit den Zugang ins Ghetto erreichten, hörten wir das kreischende Aufheulen von Armeefahrzeugen und vielfaches lautes Knallen, das wir für Gummigeschosse hielten. Nun fing jeder an zu rennen, weil man Angst hatte, die Armee würde ihre Kidnapper losschicken, um Leute zu verhaften. Ich war ja in der Schule Geländeläufer gewesen und raste also quer über die Rossville Street los, während Eamonn sich hinter mir hielt. Aus dem dumpfen Geknall war jetzt scharfes Krachen geworden, und ich wusste sofort, dass scharfe Hochdruckmunition rund um uns her einschlug, es war nicht mehr das stumpfe Aufprallen von Gummigeschossen. Anscheinend merkten es jetzt alle anderen auch.
All die Männer, Frauen und Kinder, die erst kurz zuvor ihr Sonntagmittags-Mahl zu sich genommen hatten – zu Tausenden flohen die Bürgerrechtsmarschierer in Wellen vor den Fallschirmjägern, die wahllos feuerten. Alle hatten das Gefühl, irgendetwas liefe hier ganz entsetzlich falsch. Es gab ja absolut keinen Grund, in eine friedliche Menschenmenge hineinzuschießen. Rings umher wurden unschuldige Zivilisten getötet und der Rest von uns musste sich blitzschnell Deckung suchen, bevor man selbst auch noch erschossen wurde. Zu Hunderten lagen Menschen am Boden und schrien anderen zu, sie sollten dasselbe tun. Andere rannten weiter auf kleine Hofdurchgänge zwischen den
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