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The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)

The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition)

Titel: The Volunteer. Erinnerungen eines ehemaligen IRA-Terroristen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shane O'Doherty
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Häusern zu. Während ich auf einen solchen Durchgang zuraste, schlugen Kugeln in die Ziegelwände ein, aber ich hielt nicht an. Dort angekommen fiel mir auf, dass Eamonn nicht mehr bei mir war, und nachdem ich einige Minuten gewartet hatte, rannte ich weiter zu seinem Haus, weil ich dachte, wir würden dort wieder zusammentreffen. Die Leute riefen sich gegenseitig Dinge zu, aus denen ich entnehmen konnte, dass viele, die an der Ecke zur Rossville Street um mich herum gewesen waren, aber nicht so schnell rennen konnten wie ich, von den Fallschirmjägern ergriffen worden waren.
    Als ich Eamonns Haus erreichte, fand ich dort nur seinen Bruder, der Priester war, vor. Er hatte bereits davon gehört, dass friedliche Bürgerrechtsdemonstranten ermordet worden waren, und befürchtete, Eamonn könnte ebenfalls ein Opfer geworden sein. Nun wollte er unter den Leichen nachsehen, die dort lagen, wo sie erschossen worden waren. Ich war sofort bereit, ihn dabei zu begleiten.
    Also fuhren wir hinunter in die Bogside, die nicht weit entfernt lag. Wir begaben uns bis ganz nach vorn an die „Frontlinie“ neben den hohen Mietwohnungsblocks in der Rossville Street, wo Kugeln fliehende Zivilisten erwischt hatten, und fanden dort einen schrecklichen Anblick vor. Ein Mann mittleren Alters lag in einer unvorstellbar großen Blutlache am Boden. Sein Hinterkopf war von Schüssen zertrümmert und Knochensplitter und Gehirnmasse lagen umher. Leute standen daneben und starrten dieses entsetzliche Bild an, bis das große Banner des Bürgerrechtsverbandes Nordirlands über die Leiche und das Blut gebreitet wurde. Das blutgetränkte Banner diente später als grausige Erinnerung an das, was an diesem Tag geschehen war.
    Laut Gerücht waren wahrscheinlich bis zu einem Dutzend Menschen tot und viele weitere verwundet. Mein allmählich panisch werdender Gefährte beschloss, über die Brücke zum Altnagelvin-Krankenhaus in der Waterside zu fahren, um dort bei den Toten in der Leichenhalle nachzusehen. Ich erklärte mich bereit, mit ihm dorthin zu fahren; dabei glaubte ich nicht, dass wir auch nur in die Nähe des Krankenhauses gelangen würden. Mittlerweile waren nämlich überall in der ganzen Stadt Kontrollstellen errichtet worden.
    Tatsächlich aber verschafften uns sein Priestergewand, sein Ausweis und seine Gespräche mit Soldaten an den Kontrollstellen im Handumdrehen freie Fahrt auf die andere Seite des Flusses zum Krankenhaus. Als wir die gebohnerten Flure entlang auf die Leichenhalle zu gingen, sah ich hochrangige Armee- und Polizeioffiziere davorstehen, die lachten und Scherze machten. Ich sagte dem Priester, ich könne nicht mit hinein in die Leichenhalle gehen, deshalb würde ich draußen auf ihn warten. Bei all den IRA-Aktivitäten, an denen ich mich bisher beteiligt hatte, war ich doch nie von Angesicht zu Angesicht mit dem Tod konfrontiert worden und konnte die Vorstellung, hier jetzt ganz viele Tote zu sehen, nicht ertragen. Also ging er allein hinein. Die Armee- und Polizeioffiziere nahmen keine Notiz von mir. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei nur irgendein Teenager.
    Nach einer Weile sah ich die ersten Angehörigen ankommen, um die Leichen ihrer Ehemänner und Söhne zu identifizieren. Gestützt von ihren Söhnen und Töchtern kamen kleine ältere Frauen in Tränen aufgelöst den Gang entlang. Sie konnten einfach nicht glauben, dass ihre geliebten Angehörigen während eines harmlosen Bürgerrechtsmarschs erschossen worden waren. Als sie am Eingang der Leichenhalle ankamen, sahen sie das Grinsen und Gelächter der witzelnden Offiziere der britischen Armee und der Polizisten der Royal Ulster Constabulary.
    Mühsam hielt ich meine Tränen zurück und hatte dabei das Gefühl, dass ich nicht ohne Grund Zeuge dieses Geschehens war. In diesem Moment fühlte ich mich wie ein Idiot, weil ich die IRA verlassen hatte. Wenn ich schon wegen meiner Teilnahme an einem friedlichen Bürgerrechtsmarsch totgeschossen werden konnte, dann konnte man mich doch besser dafür erschießen, dass ich die Armee-Mörder so gut wie möglich bekämpfte! So deutlich wie nie zuvor empfand ich jetzt, dass junge Männer wie ich in der Pflicht waren, die Verteidigung zu übernehmen, da die sogenannten Ordnungs- und Gesetzeshüter uns dahinmetzelten. Ich wusste, dass ich mich innerhalb weniger Tage bei der IRA wieder einsatzbereit melden würde. Die britischen Streitkräfte sah ich jetzt definitiv als Terroristen an, die in meinem eigenen Land meine eigenen

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