The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)
konnte.
Dann entdeckte er an der Ecke den Wohnkomplex mit Innenhof sowie die große, struppige Hecke, die an einer Wand entlang gepflanzt war. Es war niemand in der Nähe.
Die Arme um den Rumpf geschlungen, als wolle er seine Gedärme an Ort und Stelle halten, hüpfte Marty schnell zu der Hecke und tauchte kopfüber hinein, wobei er sich an den Dornen das Gesicht zerkratzte und die Kleidung zerfetzte. Doch das war ihm egal, er wollte gänzlich von Gebüsch eingehüllt und völlig abgeschirmt sein.
Marty öffnete den Gürtel seiner Hose, ließ sie auf seine Knöchel fallen und ging zwischen den spitzen Ästen in die Hocke, nur einen Sekundenbruchteil bevor sein Schließmuskel explodierte. Er kniff fest die Augen zu und kauerte sich in die Sträucher, Grimassen schneidend und gequält von den Krämpfen, den Geräuschen, den Gerüchen und der überwältigenden Erniedrigung seiner Nacktheit und Verwundbarkeit.
Intellektuell betrachtet war Marty vollkommen bewusst, dass daran nichts Beschämendes war. Er war ein menschliches Wesen. Er war krank. Er hatte keine Wahl. Doch es gab nichts, was Marty sich einreden konnte, um die Beschämung zu mildern, die sogar noch stärker war als sein beträchtliches körperliches Unwohlsein. Marty zog sich die Atemschutzmaske über die Nase, hielt seine Augen geschlossen und betete, dass niemand vorbeikommen möge, während sein Körper sich krümmte, krampfte und eine gründliche Darmreinigung betrieb.
Eine Hitzewelle rollte über ihn hinweg und er trieb dahin, in einem Fischerboot auf dem Deer Lake, sein Großvater hielt den rumpelnden Außenbordmotor mit einer Hand fest, während er die Rute der Schleppangel im Auge behielt und darauf wartete, dass die Fische anbissen.
Es war ein heißer Tag, und die Hitze wurde auf dem Aluminium-Boot durch die Reflexion der Sonnenstrahlen noch verstärkt. Sie saßen in einer Bratpfanne, die auf dem stehenden Gewässer hin- und hertrieb. Niemand baute Häuser am Deer Lake. Man parkte sie, stellte einen Picknicktisch vor der Tür auf und nannte sie Fischerhütte.
»Ich muss mal aufs Klo«, jammerte Marty zum sechsten oder siebten Mal, während er sich auf seiner Bank vor und zurück wiegte, sonnenverbrannt, unbehaglich und mit um seinen Magen geschlungenen Armen.
Sein Großvater, Opa Earl, streckte ihm eine verrostete MJB-Kaffeedose entgegen. Sie war voller Zigarrenstumpen und Asche, Fischinnereien und Erdnussschalen. »Pinkel da rein. Die Fische beißen.«
»Ich kann nicht.« Marty roch wie eine Kokosnuss, weil sein Schweiß die Klumpen aus Coppertone-Sonnencreme verflüssigte, die seine Mutter ihn jedes Mal auftragen ließ, wenn er auf den See hinausfuhr. »Ich muss groß.«
»Dann hältst du es auch noch ein Weilchen länger aus«, entschied Opa Earl und zupfte gedankenverloren getrocknete Fischschuppen von seiner Hose, wobei er die Angelschnur im Blick behielt. »Wir sind über einem Schwarm Silberlinge. Die werden uns gleich ins Boot springen.«
Das würden sie auch tun müssen. Den letzten Fisch hatten sie vor drei Stunden gefangen, und er war ein dünnes, kränkliches Exemplar, das den Haken wahrscheinlich absichtlich verschluckt hatte, um seinem elenden Leben ein Ende zu setzen. Seither hatte keiner mehr angebissen.
»Wir könnten doch für eine Minute anlegen und direkt wieder hinausfahren«, argumentierte Marty. »Die Fische werden dann immer noch da sein.«
Opa Earl warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Mit der Angelschnur an Bord fängt man keine Fische.«
Das war Opa Earls Allzweckbemerkung für alles im Leben, von der Impotenz seines Bruders bis zur US-Invasion in Grenada, eine Zeile unbestreitbarer Weisheit, die sogar noch größere, ja fast religiöse Bedeutung gewann, wenn er tatsächlich beim Angeln war. Als Opa Earl diesen Satz sagte, wusste der zehnjährige Marty, dass ihn weder Jammern noch Betteln noch seine Überredungskünste würden umstimmen können. Also saß Marty einfach da und starrte den toten Fisch in der Styropor-Kühlbox an, der im blutigen Eiswasser dümpelte.
Als Marty nicht mehr länger einhalten konnte, als er vor Scham schluchzte, während sich seine Gedärme in die Badehose entleerten, war Opa Earl zu beschäftigt, um es zu bemerken. Es hatte einer angebissen. Opa Earl war im Boot aufgestanden und holte die verbleite Schnur ein, wobei er wie immer jedes Detail kommentierte.
»Der faltet mir die Angelrute zusammen, schau dir das an! Das ist ein Monster! Das muss die Killerforelle sein, der größte
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