The Walk: Durch eine zerstörte Stadt (German Edition)
Ausdruck erfunden, um sich und ihrer Arbeit den Anschein zu geben, eine echte Schauspielerin zu sein. Sie war Komparsin, eines der unzähligen namenlosen Hintergrundgesichter, die für 70 Dollar am Tag plus Verpflegung angeheuert wurden, um Korridore, Straßen und Menschenmengen für Filmszenen zu füllen.
Sie blätterte rasch weiter. »Ich habe mit dem Showbiz aufgehört, nachdem ich einige Staffeln lang eine Krankenschwester in ›Diagnose: Mord‹ gespielt habe. Meine Rolle hat mich einfach nicht mehr gefordert. Meistens ging sie den immer gleichen Gang hoch und runter, mit den immer gleichen Akten in der Hand. Ich hatte aber wirklich das Gefühl, meine Figur sollte Anrufe beantworten, sich vielleicht sogar im Hintergrund mit anderen Ärzten beraten. Der zweite Regieassistent war nicht bereit, das kreative Risiko einzugehen, also kündigte ich. Seither warte ich auf die richtige Rolle für ein Comeback.«
»Verstehe«, nickte Marty. »Ich habe leider gar nichts mit dem Casting von Sonderschauspielern zu tun.«
»Aber du wirst doch die Augen offen halten nach interessanten Rollen?«
»Sicher.« Ihr einen Job als Komparsin zu besorgen, war einfach. Es war das Mindeste, was er für sie tun konnte. Er war dankbar für ihre Freundlichkeit. Andererseits dachte er darüber nach, was sie wohl am Set sagen würde. Oh, er ist ein reizender Mann. Ich habe ihn kennengelernt, als er in meine Wacholderbüsche geschissen hat.
Vielleicht würde er ihr stattdessen einfach einen hübschen Obstkorb schicken. Oder ein paar Blumen für ihren Garten.
»Leben Sie hier alleine?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Oh nein, die Flannerys wohnen oben, und dort drüben ruht sich gerade Mr Cathburt aus«, sie winkte jemandem auf der anderen Seite des Teichs zu.
Marty reckte den Hals und sah zwei nackte Füße und ein Stück einer übel zugerichteten Liege, die unter einem massiven Haufen Stuck, Dachziegeln und Glas hervorragten. Der alarmierende Anblick schien seinen Blick so weit zu schärfen, dass er schließlich auch bemerkte, dass das Dach im zweiten Stock eingestürzt war. Als er sich wieder zu der alten Dame umdrehte, flirrte die Luft nicht mehr ganz so sehr, und er spürte das Hämmern seines Pulsschlags im Kopf. Der Tod und die Angst vor dem Sterben ließen ihn wieder klar sehen.
»Mr Cathburt macht nachmittags gerne ein kleines Nickerchen«, flüsterte sie.
»Ich glaube nicht, dass er schläft.«
Marty stand auf und eilte hinüber zu der zerdrückten Liege, um nachzusehen, ob er irgendetwas für Mr Cathburt tun konnte. Dem war nicht so.
Mr Cathburt lag erschlagen unter den Überresten des Balkons des zweiten Stocks. Auf dem Hof, nur ein paar Zentimeter entfernt, stand ein unversehrtes Glas Eistee auf der aktuellen Ausgabe von The Globe , die verkrustet in einer getrockneten Pfütze Blut klebte. Der Eistee war ganz trüb vor lauter Gips- und Stuckpartikeln, und die Schlagzeile des Globe kreischte: Clarissa Blakes lesbisches Liebesnest enttarnt! Ihre bisexuellen Freundinnen geoutet! So neugierig Marty auf Clarissa und ihre Freundinnen auch war, er hatte nicht vor, die Zeitschrift anzurühren.
»Wenn er aufwacht, bewässern Mr Cathburt und ich normalerweise den Garten«, plapperte die alte Dame einfach weiter. »Das würde alles eingehen, wenn man es den Flannerys überlassen würde.«
Marty hörte eine weitere Stimme, kaum wahrnehmbar. Zuerst dachte er, es könnte Mr Cathburt sein, der unter dem Balkon hervorwimmerte, doch dann erkannte er den kratzigen Radioton: Die Stimme kam aus einem Lautsprecher. Er schaute sich um und fand ein winziges Headset, das an einem Kabel herunterhing, das zwischen den Trümmern und der zerdrückten Liege eingeklemmt war. Irgendwo da drunter hatte ein Walkman überlebt. Das Kabel war blutverschmiert und klebrig, aber Martys Sehnsucht nach ein paar Nachrichten war größer als sein Ekel. Er hockte sich neben den verschiedenen Mr Cathburt, nahm die Kopfhörer und hielt sie sich ans Ohr.
Die Stimme des Nachrichtensprechers war schwach und zittrig, als müsste er sich selbst zum Sprechen zwingen.
»… völlige katastrophale Verwüstung. Das Ausmaß der Zerstörung ist schlichtweg unbeschreiblich. Die Zahl der Todesopfer geht mit Sicherheit in die Tausende. Wir haben keine genauen Informationen, da die Stadt im Dunkeln liegt, es gibt keinen Strom, die Telefonleitungen sind am Boden, wir wissen nur das, was wir von unserem Verkehrshelikopter aus sehen können und was wir über den
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