The Walking Dead 3: Roman (German Edition)
in unregelmäßigen Abständen auf sie herabscheint.
»Die Fressorgie?«, fragt sie. Auch Lilly hat sich warm angezogen, die Jeansjacke komplett zugeknöpft. Sie hat die Arme verschränkt, scheint sich selbst festzuhalten – eine unbewusste Geste der Selbsterhaltung.
»Yeah … Und dann noch der Typ mit dem Stumpen, an dem mal seine Hand gewesen ist. Was zum Teufel geht hier vor, Lilly?«
Sie will schon antworten, als in der Ferne großkalibrige Schüsse erklingen. Der Lärm lässt beide aufschrecken. Martinez und seine Männer sind noch immer am Wall, machen Überstunden, räumen die letzten Beißer aus dem Weg, die von den Kämpfen in der Arena angelockt wurden.
»Ist alles ganz normal«, antwortet Lilly, glaubt aber selber kein Wort von dem, was sie sagt. »Du wirst dich schon daran gewöhnen.«
»Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Beißer unser kleinstes Problem sind.« Austin zittert. »Glaubst du wirklich, dass diese Leute uns ausrauben wollten?«
»Wer weiß?«
»Wie viele könnte es dort draußen noch geben? Was glaubst du?«
Sie zuckt mit den Achseln. Ihr Bauchgefühl gibt ihr zu verstehen, dass irgendetwas Gefährliches, Unaufhaltsames bereits begonnen hat. Wie eine Vorahnung, ein schwarzer Gletscher, der langsam unter ihren Füßen zu schwinden droht. Die Geschehnisse führen sie zu neuen ungewissen Horizonten. Und das erste Mal, seitdem sie auf diese bunt zusammengewürfelte Kommune gestoßen ist, verspürt Lilly Caul eine Angst tief in ihren Knochen, die sie nicht zu identifizieren vermag. »Ich habe keine Ahnung«, erwidert sie schließlich. »Aber ich glaube, dass wir vorerst keine ruhige Nacht mehr kriegen werden.«
»Um ehrlich zu sein, habe ich seit dem Ausbruch der Plage nicht mehr gut geschlafen.« Seine Wunde beginnt plötzlich wieder zu schmerzen, lässt Austin zusammenzucken, und er hält sich die Hand darüber. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine einzige Nacht seitdem durchgeschlafen.«
»Jetzt, wo du es sagst – ich auch nicht.«
Sie gehen ein paar Schritte, ohne ein Wort zu sagen … dann fährt Austin fort: »Darf ich dich etwas fragen?«
»Schieß los.«
»Bist du jetzt wirklich auf der Seite des Governors?« Er blickt sie durchdringend an.
Lilly hat sich genau dieselbe Frage schon selbst gestellt. Leidet sie etwa an einer Form des Stockholm-Syndroms – diesem merkwürdigen psychologischen Phänomen, bei dem Geiseln Empathie und positive Gefühle für ihre Entführer empfinden? Oder projiziert sie ihre gesamte Wut und unterdrückte Emotionen auf diesen Mann, als ob er eine Art Kampfhund wäre, der auf unerklärliche Weise mit ihrem Selbst unzertrennbar verbunden ist? Eigentlich weiß sie nur, dass sie Angst hat. »Ich weiß, dass er ein Psychopath ist«, meint sie schließlich, versucht, die richtigen Worte zu finden. »Du kannst mir ruhig glauben … wenn es die Umstände zulassen würden … würde ich auf die andere Straßenseite wechseln, sobald ich ihn auf mich zukommen sehe.«
Austin sieht nicht besonders beeindruckt aus, scheint sprachlos. »Was willst du damit sagen? … Ist es so ein Wenn-es-hart-auf-hart-kommt-Ding? Oder wie soll ich das verstehen?«
Sie blickt ihn an. »Was ich damit sagen will, ist, dass wir angesichts dessen, was da draußen wimmelt, in großer Gefahr schweben können. Vielleicht die schlimmste Gefahr, in der wir uns seit der Gründung der Woodbury-Kommune befinden.« Sie denkt eine Weile darüber nach. »Man könnte es so sagen: Ich sehe den Governor als … ich weiß nicht … als ob man den Teufel mit dem Beelzebub austreibt?« Dann fügt sie mit sanfterer Stimme hinzu, scheinbar weniger selbstsicher: »Solange er auf unserer Seite steht.«
Eine weitere Salve von Schüssen lässt beide zusammenzucken.
Am Ende der Hauptstraße kommt eine Kreuzung mit stillgelegten Bahngleisen. In der Dunkelheit der Nacht sehen das kaputte Schild und das schulterhohe Unkraut wie Boten vom Ende der Welt aus. Lilly will sich schon gen Norden in Richtung ihrer Wohnung drehen, hält dann aber inne.
»Okay, also, äh …« Austin macht den Eindruck, als wüsste er nicht, was er mit seinen Händen anfangen soll. »Also, auf eine weitere schlaflose Nacht.«
Sie schenkt ihm ein müdes Lächeln. »Ich habe eine Idee. Warum kommst du nicht mit zu mir, und dann kannst du mich mit deinen Geschichten langweilen, wie du am Panama City Beach gesurft bist. Hey, vielleicht ist es ja öde genug, dass ich einschlafen kann!«
Für einen kurzen Moment
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