Themiskyra – Das Versprechen (Band 2) (German Edition)
Atalante sich noch im Nebenraum befand, wollte ich sie nicht auf den Trichter bringen, auch noch Polly in Haft zu nehmen. Stattdessen schoss ich noch meinen letzten Pfeil ab und meine Schwester, jetzt wachsam, hörte ihn in der Stallwand aufschlagen. Sie lief hin und fand auch den Pfeil mit meiner Nachricht.
Verwundert zog sie ihn aus dem Holz, blickte sich verstohlen um und las meine Botschaft. Mit gerunzelter Stirn sah sie auf, rekonstruierte die Fluglinie und kombinierte sie mit dem Inhalt meines Briefs. Ich ließ den Bogen sinken, ging auf die Knie, damit sich mich durch das Fenster besser sehen konnte, und presste meine Handfläche gegen die Scheibe. Sie sah mich perplex und fragend an, dann wandte sich mit einem Ruck ab, sammelte schnell die Pfeile ein und lief ins Haus.
Es dauerte eine ganze Weile, dann sah ich, wie sich die Türklinke bewegte. Erleichtert sprang ich auf, aber nichts tat sich.
„Polly?“, rief ich und rüttelte an der Klinke. Die Tür war immer noch verschlossen. Ich glaubte, sie etwas sagen zu hören, aber es war zu gedämpft, um einzelne Worte zu verstehen. Es pochte schwach an der Wand daneben und ich klopfte unter vollem Fausteinsatz zurück, dann klopfte es ein paar Meter weiter und wieder antwortete ich. Nach einer Minute kehrte das Klopfen an der anderen Mauer zurück, war aber immer noch so schwach wie zuvor. Wir arbeiteten uns vorwärts, bis ich an der rückwärtigen Wand des Bads angekommen war und endlich Pollys Stimme hören konnte. Ich stieg in die Badewanne und legte mein Ohr an die Mauer über der obersten Kachelreihe.
„Hörst du mich jetzt, Ell?“
„Ja, ich kann dich hören!“, schrie ich und meine Lippen berührten dabei fast die Wand. „Wo bist du?“ Ich konnte es im Augenblick nicht rekonstruieren.
„In einer Vorratskammer neben dem Tempelraum. Im Studierzimmer steckte kein Schlüssel, Atalante muss ihn mitgenommen haben. Was ist passiert?“
Erschöpft raufte ich mir die Haare. „Atalante hat Louis und mich erwischt. Als sie erfahren hat, dass Louis über meine und somit ihre Vergangenheit Bescheid weiß, ist sie durchgedreht und hat mich eingesperrt und ihn gefangen nehmen lassen.“ Soweit die Kurzfassung. Polly erwiderte nichts. Kurz befürchtete ich, dass sie einfach sagen würde: Selbst schuld, dein Problem, was sie noch vorgestern mit Sicherheit auch getan hätte. „Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber ich muss hier raus !“, setzte ich voll Verzweiflung hinzu.
„Okay.“ Ihre Stimme klang ganz ruhig. „Ich sehe zu, was ich tun kann.“
„Aber lass dir nichts anmerken, okay? Ich weiß nicht, wozu sie fähig ist, wenn ihr klar wird, dass du zu mir hältst.“
„Kein Problem. Mach dir keine Sorgen. Ich bin so bald wie möglich wieder zurück.“
„Danke.“
Um die Zeit zu überbrücken rannte ich wie eine Blöde minütlich zwischen Fenster und Badewanne hin und her. Ich wollte weder verpassen, was sich draußen tat, falls Louis wieder freigelassen wurde, noch Pollys Rückkehr versäumen. Irgendwann streifte mein Blick den Spiegel und ich verharrte davor.
Die Schönheit war weg. War ja klar. Stattdessen starrte mich ein zerzaustes wirres Tier an, in dessen umschatteten Augen ich schon den geerbten Irrsinn aufblitzen sah. Ich atmete tief ein und versuchte, mich zu beruhigen.
Du kannst jetzt nichts machen. Nur abwarten.
Langsam und fast widerwillig griff ich nach Atalantes Bürste und begann, meine Haare zu entwirren. Dann zog ich meine verdreckte Kleidung aus, wusch Unterwäsche, Socken und mein Oberteil im Waschbecken mit Shampoo aus und hängte sie über die Heizung, die ich bis zum Anschlag aufdrehte. Ich zog den Stöpsel des Waschbeckens und sah dem rosafarbenen Wasser wie hypnotisiert dabei zu, wie es wirbelnd im Ausguss verschwand, bevor ich mich unter die Dusche begab. Doch ich zögerte, das Wasser anzustellen.
Was ist?
Ich habe Louis' Sommergeruch auf der Haut. Ich will ihn nicht wegspülen.
Das ist krank.
Ich weiß. Mit einer entschiedenen Handbewegung drehte ich das Wasser auf und wusch mich von Kopf bis Fuß. Alle paar Sekunden hielt ich den Kopf aus der Duschkabine, um zu lauschen, ob Polly wieder zurück war, doch auch, als ich mich abgetrocknet hatte, war sie noch nicht wieder aufgetaucht. Das Einzige, was ich hörte, war das nachdrückliche Knurren meines Magens. Die letzte Mahlzeit war über vierundzwanzig Stunden her und ich hatte schon am Vorabend gedacht, ich sei am Verhungern. Und das war vor den Anstrengungen der
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