Themiskyra – Die Begegnung (Band 1) (German Edition)
ein.
„Er phantasiert“, stellte Louis nach einer kurzen Pause sachlich fest.
Was für eine Frechheit, kleine Amazone, dachte ich im ersten Augenblick empört, realisierte dann aber den genauen Wortlaut. Deine. Seine. Mir wird schlecht. Ich muss weg.
„Offensichtlich“, brachte ich hervor. „Ich muss jetzt nach Hause. Sobald ich kann, bringe ich noch ein paar Decken.“
„Das musst du nicht“, erwiderte Louis mit unbewegter Stimme ohne aufzusehen. Wut brodelte in mir hoch. Ich hatte jetzt keine Nerven für das übliche Gespräch über unerwünschtes Mitleid und unüberwindbare Standesunterschiede.
„Doch, das muss ich. Ich werde nicht zulassen, dass Dante vor die Hunde geht, nur weil sein störrischer Sohn zu stolz ist, ein paar Decken anzunehmen.“
Ich schnappte mir meinen Umhang, wirbelte herum und war drauf und dran, einen dramatischen Abgang inklusive laut zuknallender Tür hinzulegen, als ich zwei schnelle Schritte hörte und fühlte, wie Louis mich an der Schulter ergriff und mich zurückhielt.
„Ell, warte … Ich muss mit dir reden.“
Ich schüttelte ihn ab. „Du musst mir nichts erklären. Ich habe die Ansage neulich verstanden. Ich halte mich aus deinem Leben raus. Aber nicht aus Dantes, ob dir das nun passt oder nicht.“ Damit streifte ich mir resolut die Kapuze über und lief in die Nacht hinaus.
„Ist es schlimm?“, fragte Polly, als ich ihr im Schutz unseres Zimmers erzählte, was geschehen war. Sie wusste, dass mir der alte Mann ans Herz gewachsen war und fühlte mit mir.
„Ich weiß es nicht“, stieß ich zusammen mit einem Stoßseufzer aus. Meine Wut war verraucht; ich fühlte mich einfach nur noch überfordert und deprimiert. „Diese Zicken in der Klinik wollten ihn nicht behandeln und ich habe doch überhaupt keine Ahnung, was ich tun soll. Oh Polly, wenn er stirbt …!“ Tränen stiegen mir in die Augen.
Meine Schwester nahm mich in den Arm und drückte mich. „Es wird schon alles werden“, versuchte sie, mich zu trösten.
Ich konnte ihr nicht glauben, so gerne ich auch wollte. Nichts wird einfach, man musste immer irgendetwas dafür tun. Und ich hatte keine Ahnung, was genau ich tun musste.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte sie.
Ich löste mich von ihr und wischte mir eine Tränenspur aus dem Gesicht.
„Nein. Oder vielleicht doch.“ Ich überlegte. „Ich brauche ein fiebersenkendes Mittel.“
Paracetamol war in der postapokalyptischen Welt nicht mehr aufzutreiben, ich musste also einen natürlichen Ersatz finden.
Sonnenhut, gut für die Wundbehandlung, sagte mein Vater in meinem Kopf. Ysop stärkt die Abwehrkräfte. Zitronenmelisse gegen Schlafstörungen. Ich zermarterte mir mein Gehirn, aber ich erinnerte mich an keine einzige fiebersenkende Pflanze.
„Chinin!“, rief Polly, die begonnen hatte, ihre Aufzeichnungen aus dem Natur- und Umweltkundeunterricht durchzublättern.
„Chinarinde wächst in Südamerika“, gab ich entmutigt zurück, „das ist leider ein bisschen weit weg.“
„Wir haben das bestimmt in getrockneter Form hier“, versicherte mir Polly. „Wenn du Schmiere stehst, hole ich es aus dem Kliniklabor im Keller.“ Sie war so aufgeregt und konspirativ, dass ich fast lachen musste.
„Ist das dein Ernst?“, fragte ich.
„Was soll schon passieren?“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Zum Beispiel, dass wir wegen Diebstahl und Heilen eines Unwürdigen an den Pranger gestellt und dann aus der Stadt verjagt werden?“, schlug ich vor.
Sie nickte nachdenklich. „Stimmt. Aber: Reverse the frown and let the power surge! Und: No risk, no fun. “
„Weißt du denn, wo du das Zeug finden kannst?“ Ich war noch nicht vollständig überzeugt.
Polly nickte. „Vor einem halben Jahr hatte ich doch meinen praktischen Monat im Labor. Ich muss nur die richtige Schublade finden.“
Ich fand die Aktion immer noch bedenklich, aber ich wusste, dass ich mir nie verzeihen würde, wenn Dante die Krankheit nicht überlebte, nur weil ich jetzt zu feige war. Also stimmte ich zu.
Die Eingangshalle der Klinik lag dunkel und still vor uns. Ich bezog meinen Posten hinter einer Grünpflanze nahe dem Treppenhaus und Polly lief, mit meiner Taschenlampe ausgerüstet, lautlos die Stufen in den Keller hinunter.
Die Zeit verging. Das mit dem Schmiere stehen war eine tolle Idee, aber was sollte ich tun, wenn wirklich jemand käme? Wie sollte ich Polly warnen? Oder sollte ich die Person ablenken? Aber womit? Ich wurde nervös, wenn ich
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